Die toten Mädchen von Villette
mein Job. Hat übrigens einer der Herren Lust, mich morgen auf den Empfang des Bürgermeisters für die europäische Presse zu begleiten? Ich brauche einen Kavalier zum Anlehnen.
Tony schüttelte bedauernd den Kopf.
– Kann leider nicht, einer der Köche hat frei, da kann ich das Restaurant nicht mitten am Tag verlassen.
– Und Philippe?
– Gern, sagte Philippe.
– Gut, sagte Sophie, dann sage ich jetzt gute Nacht. Können wir uns morgen um elf in meinem Hotel treffen? Ich wohne im Sofitel hinter der Grande Place.
Martine wachte mit einem Ruck auf. Sie mußte am Schreibtisch eingeschlafen sein. Sie sah auf die Uhr. Gleich halb acht. Sie hatte fast eine halbe Stunde gedöst, ohne imgeringsten ausgeruht zu sein. Ihre Augen fühlten sich sandig an, der Mund trocken und die Haut klebrig. Sie ging zum Spiegel am Archivschrank und schnitt dem Bild, das ihr begegnete, eine Grimasse – die Mascara in Klumpen, ungekämmte Haare, ein roter Fleck auf der Wange, wo sie die Hand gehabt hatte, während sie schlief. Hier waren umfassende Reparaturarbeiten gefordert.
Auch ihre Kleidung war nicht in präsentablem Zustand. Die lange Hose hatte ganz unten Flecken aus Lehm, und das Leinenhemd fühlte sich schmuddelig an. Sie mußte Thomas anrufen und ihn bitten, etwas mitzubringen.
Jemand hatte die Morgenausgabe der Gazette de Villette auf den Schreibtisch gelegt. Martine bebte, als sie sie entfaltete. »Dreifacher Mord in Villette« war die Schlagzeile über die ganze erste Seite mit den Untertiteln »Drei Teenager tot« und »Der größte Ermittlungseinsatz in der Geschichte Villettes«. Ein Bild von Martine war über vier Spalten gezogen worden, glücklicherweise eines von den besseren aus dem Zeitungsarchiv, und daneben war ein Bild des Salome-Wagens, auf dem Sabrina Deleuze während der Prozession gewesen war.
Martine las den Artikel eilig durch. Sie war korrekt zitiert, und Nathalie Bonnaire hatte darauf verzichtet, die Namen der ermordeten Mädchen zu nennen. Es war ihr trotzdem gelungen, die Informationen, die sie hatte, dazu zu benutzen, einen starken Artikel zu schreiben, der den Festtag der drei Mädchen in Villette in Kontrast zu dessen brutalem Abschluß unten am Fluß setzte.
Martines Magen knurrte. Sie hatte Hunger, aber nicht die geringste Lust, frühstücken zu gehen, so wie sie jetzt aussah. Auf dem Boden lag eine grüne Plastiktüte. »Demeesters Delikatessen« stand da, und darunter prangte eingoldenes Füllhorn. Stimmt, das hatte sie von Tatia bekommen, mit Grüßen von Bernadette.
Martine guckte in die Tüte. Darin befand sich eine kleine viereckige Blechdose mit Gänseleberpaté, ein noch kleineres Glas mit irgendeinem Typ Kaviar, ein Glas Feigenmarmelade, ein Spankorb mit kleinen Käsen und eine kleine Tüte mit italienischen Crostini, gewürzt mit ökologisch angebautem Knoblauch, und ein offensichtlich unerhört exklusives Olivenöl.
Das mußte als Frühstück genügen. Martine nahm ein paar Crostini heraus, öffnete die Dose mit der Gänseleberpaté und strich sie mit Hilfe eines Löffels, den sie in der untersten Schreibtischschublade fand, auf das Brot. Jetzt brauchte sie auch noch ein bißchen Kaffee. Wo steckte Julie? Sie war sicher schon losgegangen, um Kaffee aufzusetzen.
Martine nahm einen Bissen von ihrem improvisierten Frühstücksbrot. Es schmeckte gut, wirklich himmlisch. Sie hatte ein ganzes Patébrot gegessen, als Julie hereinkam.
Julie hatte keinen Kaffee bei sich, und sie sah entsetzlich aus, schlimmer als Martine selbst, weiß um die Lippen und mit dunklen Ringen unter den Augen.
– Ich brauche Urlaub, sagte Julie.
Martine lachte lautlos.
– Das brauche ich auch, wir können doch zusammen an irgendeinen netten Ort fahren.
– Nein, ich meine es ernst, sagte Julie, ich brauche Urlaub, jetzt sofort. Du weißt, wieviel ich noch ausstehen habe. Ich verspreche, Ersatz zu besorgen, ich verstehe ja, daß es ausgerechnet jetzt unpassend ist, aber ich muß!
Martine starrte sie an, während ihr langsam aufging, daß sie es wirklich ernst meinte.
– Bist du nicht ganz bei Trost, sagte sie, wir haben gerade die größte Morduntersuchung in der Geschichte Villettes eingeleitet, und du willst freinehmen? Das ist völlig unmöglich!
Julie sah unglücklich aus.
– Ich verstehe, daß du es so siehst, und ich kann es im Augenblick nicht erklären, aber es ist absolut notwendig. Du wirst bald begreifen, warum. Jetzt geh ich und mach Kaffee.
Martine sah, daß sie Tränen in den
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