Die toten Mädchen von Villette
es geht, ich kapier nichts.
– Haben Sie keine Nachrichten gehört? sagte Martine. Er schüttelte den Kopf.
Die Polizisten teilten sich in zwei Gruppen auf, die eine, um Hof und Nebengebäude zu durchsuchen, die zweite, um im Haus selbst zu suchen. Martine und Agnes Champenois folgten Jean-Pierre Wastia ins Haus. Er wirkte noch immer eher verwirrt als ängstlich.
– Wo schläfst du, Junge? fragte Serge Boissard, als sie in die Diele kamen.
– Ich, sagte Jean-Pierre, ist es nicht Großvater oder Vater, den Sie …?
Schließlich begann er, ernstlich besorgt auszusehen. Aberer war offensichtlich nicht auf Streit aus. Jean-Pierre Wastia war Kommandosoldat, aber jung und gewohnt, Befehle zu befolgen, und Serge sprach mit Offiziersstimme. Er zeigte auf eine Tür rechts in der großen Diele, und Serge gab seiner Gruppe ein Zeichen, dort mit der Suche zu beginnen.
– Was hattest du gestern abend an? sagte Serge.
– Die Sachen, die auf dem Stuhl am Bett liegen, sagte Jean-Pierre resigniert, eine Jacke und einen Pulli und ein Paar Hosen.
– Und an den Füßen?
– Die Stiefel, die ich anhabe.
– Um die kümmern wir uns, sagte Serge, zieh sie sofort aus.
Jean-Pierre wurde hochrot im Gesicht und ballte die Fäuste, zügelte aber sein Temperament mit einer Anstrengung, die man sehen konnte. Er schnürte die Stiefel auf, übergab sie Serge und zog statt ihrer ein Paar Turnschuhe an, die er aus einem Schuhregal zog.
Die Steinplatten auf dem Boden in der großen Diele waren so blinkend sauber, daß Martine beinah den Geruch von Seife spürte. Die Unordnung, die auf dem Hof herrschte, hatte keinen Platz hier drinnen, wo Marie Wastia, Schrott-Bernards Frau, regierte. Die Tüllgardinen vor den Fenstern waren schneeweiß und frisch gestärkt, und das ganze Haus duftete nach Möbelpolitur und Putzmitteln, die einen ungleichen Kampf gegen den starken Geruch von Zigarettenrauch führten.
– Wir können uns wohl so lange ins Wohnzimmer setzen, während sie suchen, sagte Agnes Champenois in ihrem mütterlichsten Tonfall. Sie war zweiundfünfzig und eine der besten Rechtspflegerinnen im Justizpalast, eine gute Organisatorin, kundige Juristin und zugleich klug undemphatisch im Kontakt mit Menschen. Jean-Pierre Wastia sah sie an, als sei sie eine Mutter, die gekommen war, um alles in Ordnung zu bringen. Er ist nur ein Junge, dachte Martine. Ihr war elend zumute.
Sie ließen sich auf einer protzigen Sitzgruppe aus rotem Leder nieder, proppenvoll mit Kissen aus Seide und Samt. Bernard Wastia war bei weitem nicht arm, und das war seinem Zuhause anzumerken. Der Fernsehapparat war groß und neu, im Bücherregal standen blankgeputzte Silbergegenstände Parade, und das Gardinenarrangement aus Samt, Gold und Brokat hatte eine hübsche Summe gekostet. Es war ein eigentümlicher Gedanke, daß Julie in diesem Haus aufgewachsen war. Aber sie war auf einer Reihe der silbergerahmten Fotos im Bücherregal zu sehen, als dunkeläugige Einjährige mit ihrer Mutter, als Konfirmandin im weißen Kleid und Schleier, als lachender Teenager zusammen mit zwei großen Hunden und einem Jungen von etwa zehn Jahren, der Jean-Pierre sein mußte.
Jean-Pierre zündete sich eine Zigarette an und zog einen Aschenbecher aus Kristall, groß wie eine Badewanne, zu sich heran. Seine dunklen Augen blickten suchend von Martine zu Agnes, aber er sagte nichts. Martine fragte sich, was er dachte. Jean-Pierre Wastia hatte schon ein schweres Jahr gehabt. Er war mit der belgischen UN-Truppe im April, als der Völkermord begann, in Ruanda gewesen, er hatte mit den anderen UN-Soldaten die Mordorgie über das Land rollen sehen, ohne sie verhindern zu können, er hatte erlebt, daß zehn seiner Kameraden ermordet worden waren, und er war dabeigewesen, als die belgischen Soldaten voller Ekel ihre blauen UN-Baskenmützen auf den Boden warfen, als sie in Belgien landeten.
Wie hatte das Jean-Pierre Wastia beeinflußt? Martinedachte düster, daß das kaum für ihn sprach. Gewaltsame und traumatische Erlebnisse machten Menschen instabil, und die Männer der Familie Wastia waren für ihr hitziges Temperament schon bekannt.
Sie wunderte sich darüber, wie deprimiert sie sich fühlte bei dem Gedanken, daß Jean-Pierre schuldig sein konnte. Sie durfte ihre Loyalität Julie gegenüber nicht die Untersuchung beeinflussen lassen, ebensowenig wie sie sich durch den Druck von Politikern und Medien beeinflussen lassen durfte.
Und der Druck würde dieses Mal enorm werden. Schon jetzt
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