Die toten Mädchen von Villette
Antiquitäten. Aber alles, was er wollte, war, über seine Schwester reden und Bilder von ihr zeigen. Er war ziemlich besessen von ihrem Schicksal, vielleicht kein Wunder. Und er interessierte sich sehr dafür, was Maman über ihre Erlebnisse während des Krieges gesagt hatte, vor allem wollte er wissen, ob sie eine Theorie darüber gehabt hatte, wer sie und Simone angezeigt hatte. Aber sie hatte ja nie etwas gesagt, also wußte ich nichts. Danach hatte ich keinen Kontakt mehr mit Eric Janssens.
– Aber vor ein paar Wochen hat er wieder von sich hören lassen, fuhr Philippe fort. Er rief mich bei der Arbeit an und sagte, daß er mich treffen wollte. Er klang aufgeregt, aber er wollte am Telefon nicht erzählen, worum es ging. Wir verabredeten, daß ich am Freitag derselben Woche zu ihm kommen würde. Aber als ich dort ankam, machte keiner auf, und keiner hob ab, als ich am Abend versuchte, ihn anzurufen. Dann ging ich am Samstag zurück, ich war inzwischen ziemlich neugierig, aber jetzt war das Haus voller Polizisten, und Eric Janssens war in seiner Wohnung erschlagen aufgefunden worden!
Tony stieß ein langes Pfeifen aus.
– Oh je, sagte Sophie, wissen sie, wer das getan hat und warum?
– Nein, sagte Philippe, aber weil ihm so viel daran lag, mich zu treffen, liegt es recht nahe zu glauben, daß er der Wahrheit über Simone und Maman auf die Spur gekommen war, stimmt’s? Ich glaube, sie haben zunächst mich verdächtigt, aber glücklicherweise stand ich wie festgeklebt an der Bar und habe finnischen Touristen Bier serviert, als er ermordet worden sein muß. Die offizielle Version ist zwar, daß er von einem seiner wechselnden kleinen Freunde erschlagen wurde, aber ich glaube nicht, daß sie mit dieser Erklärung zufrieden sind.
– Wer leitet die Voruntersuchung? fragte Tony.
– Tja, ein alter Bekannter von dir, sagte Philippe, Patrick Anneessens.
– Aha, Anneessens. Ja, das ist kein Dummkopf, sagte Tony nachdenklich.
– Das ist er nicht, stimmte Philippe zu. Aber jetzt kommt das, was mich wirklich stört. Den Mord entdeckt hat eine Freundin von Martine, Denise van Espen. Und heute kamTatia und zeigte ein Foto, das sie gefunden hatte, als sie in alten Kleidern in Denise’ Antiquitätenladen wühlte. Es stellte Maman und Simone Janssens dar, also muß es von Eric Janssens’ Hinterlassenschaft stammen. Ich finde, meine Tochter kommt diesem Mord viel zu nah. Mir ist dabei ziemlich elend zumute.
– »By the pricking of my thumbs, something wicked this way comes«, murmelte Sophie. Sie hatte sich nie um den Theateraberglauben gekümmert, der besagte, daß es Unglück bringt, aus »Macbeth« zu zitieren.
– Genau dieses Gefühl ist es, sagte Philippe. Und jetzt ist außerdem Martine auf Mamans Vergangenheit gestoßen. Sie bildet sich ein, daß ich mehr weiß, als ich sage, sie sitzt da und grübelt über Artikeln über Konzentrationslager in Bosnien, und bald fängt sie wohl auch an, hier herumzuwühlen. Und ich will nicht, daß jemand meiner Schwester eine Statuette auf den Kopf haut.
– Und was gedenkst du zu tun? sagte Sophie.
– Ich habe überlegt, ob ich selbst ein paar Nachforschungen anstelle, murmelte Philippe. Mich ein bißchen bei Eric Janssens’ Bekannten umhöre, und vielleicht gibt es ein Archiv aus dem Krieg, wo man solche Dinge rausfinden kann …
– Rede mit Thomas, schlug Sophie vor, er ist doch Historiker!
– Für mittelalterliche Geschichte, der Zweite Weltkrieg hat tatsächlich etwas später stattgefunden, protestierte Philippe.
– Ach was, sagte Sophie, diese Historiker kennen einander alle, die sind wie eine Art Sekte, Thomas kennt sicher jemanden, der alles über Belgien während des Zweiten Weltkrieges weiß.
Es gefiel ihr, mit Menschen zu schalten und zu walten. Sie hatte noch eine Idee.
– Ich kenne einen Fotografen, der einige Reportagen über Lager in Bosnien gemacht hat, sagte sie, er heißt Jacques Martin, und er ist zur Zeit in Villette. Ich glaube tatsächlich, er hat mehrere Reportagen über Frauen im Krieg gemacht, er hatte neulich eine Ausstellung in Brüssel. Vielleicht wäre es interessant für Martine, mit ihm zu reden?
Philippe zuckte die Achseln. Jetzt sah er wieder deprimiert aus.
Tony beobachtete Sophie. Seine Mundwinkel bogen sich eine Spur.
– Ich glaube, es gefällt dir, über Leute zu schalten und zu walten, schöne Sophie, sagte er sanft.
– Ich bin Regisseurin, sagte Sophie. Und Mutter. Und große Schwester. Schalten und walten ist
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