Die toten Mädchen von Villette
eine entsetzliche Geschichte, in die du da geraten bist.
– Ich brauche frische Klamotten, sagte Martine, kannst du eine Garnitur mitbringen, wenn du zum Empfang reinfährst?
– Klar, sagte Thomas, was soll ich nehmen?
– Nimm das grüne Kostüm, das hängt im Schrank ganz links, das heißt, nein, warte mal …
Das grüne Leinenkostüm stand ihr und war für einen Samstag im Juni perfekt, aber vielleicht gab die frühsommerhelle Farbe einen falschen Ton an für die Untersuchung der brutalen Morde an drei Teenagern?
– Nein, nimm lieber was Dunkles, sagte sie.
– Wie meinst du »was Dunkles«, sagte Thomas hilflos, so was kannst du zu mir nicht sagen, ich bin ein einfacher Historiker, kein Modeexperte. Du solltest vielleicht lieber mit Tatia reden, sie hat hier übernachtet.
Tatia kam ans Telefon. Martine erklärte ihr das Problem.
– Das erledige ich, sagte das Mädchen, ich weiß genau, was du brauchst. Etwas, das dich wichtig aussehen läßt, aber gleichzeitig menschlich und nicht allzu trist. No problem! Aber du, Martine …
Ihre Stimme klang plötzlich unsicher und sehr jung.
– Das ist schrecklich, die Morde an diesen Mädchen. Glaubst du, ihr findet den bald, der das getan hat?
Daß Tatia im selben Alter wie die drei ermordeten Mädchen war, war ein Gedanke, den Martine zu verdrängen versucht hatte, als sie am Tatort stand. Aber es war ihr nicht ganz gelungen, und sie hatte noch mehr an Tatia gedacht, als sie in dem Haus in Givray stand und die Gemälde der ermordeten Nadia betrachtete.
– Wir tun unser Bestes, sagte sie, du brauchst jedenfalls keine Angst zu haben, Herzchen.
Durch das halboffene Fenster kam ein kühler Windhauch, der die Haare auf ihren Armen in dem dünnen Hemd aufrecht stellte.
Bernard Wastias Hof lag an der Landstraße, an der Sabrina, Peggy und Nadia ihrem Schicksal begegnet waren. Martine sah auf den Kilometerzähler, als sie die Stellepassierten, wo die Leute von der Spurensicherung noch hinter dem blauweißen Polizeiband arbeiteten. Exakt fünf Kilometer weiter bog eine Einfahrt neben einem schlampig handbemalten Schild mit dem Text »Wastias Schrott. Ankauf und Verkauf« nach links hinauf.
Das Wohnhaus war ein niedriges Steingebäude, das alt, solide und unzerstörbar aussah. Aber die Nebengebäude um den umbauten Hof waren in schlechtem Zustand mit kaputten Fensterscheiben, abblätternder Farbe und Dächern, die aussahen, als müßten sie neu gedeckt werden. Der Hof war früher einmal säuberlich gepflastert gewesen, aber jetzt ragten Büschel trockenen Grases zwischen den Steinen auf. Rostige Maschinen und Schrottautos drängten sich auf dem Hofplatz und hinter den Nebengebäuden.
Dumpfes Hundegebell kam ihnen entgegen, als die kleine Karawane aus Polizeiwagen die Einfahrt hinaufgefahren kam. Mit gesträubtem Fell warfen sich zwei riesige schwarze Hunde gegen den Gitterzaun eines Hundezwingers rechts von der Einfahrt. Martine hoffte, daß die Einfriedung hielt. Sie mochte Hunde nicht, zumindest keine Hunde, die aussahen, als hätten ihre Ahnen in den Arenen von Rom Christen zerfleischt. Aber sie war ja von bewaffneten Polizisten umgeben.
Sie hatten ihren Besuch nicht angekündigt, aber das Gebell der Hunde machte jeder Hoffnung auf einen unbemerkten Auftritt ein Ende. Gerade als sie auf den Hof fuhren, wurde die Tür zum Wohnhaus geöffnet, und ein junger Mann trat auf die Treppe hinaus.
– Still Aki, still Amar! rief er. Dann fiel sein Blick auf die Polizeiwagen. Er ließ die Türklinke los und blieb auf der Treppe stehen, regungslos wie eine Statue, die Hände an den Seiten.
Es war Jean-Pierre Wastia. Martine erkannte ihn von dem Foto auf Julies Schreibtisch her. Er war einundzwanzig Jahre alt, schlank und durchtrainiert, mit kurzgeschnittenen Haaren über einem sonnenverbrannten Gesicht mit Julies dunklen Augen und fülliger Unterlippe. Er trug ein schwarzes T-Shirt, eine Militärhose mit Tarnmuster und Militärstiefel.
– Worum geht es? fragte er, als sie in Hörweite waren.
Sie blieben unten vor der Treppe stehen, während Christian den Hausdurchsuchungsbefehl vorzeigte. Jean-Pierre Wastia sah verwirrt aus.
– Worum geht es? fragte er wieder. Ist irgendwas passiert?
Niemand antwortete ihm.
– Wir müssen ins Haus, sagte Martine, ist noch jemand anders zu Hause?
– Nein, sagte er mürrisch, ich bin allein, mein Großvater und meine Großmutter sind verreist. Sie sind die, die mit Julie arbeitet, stimmt’s? Können Sie mir nicht sagen, worum
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