Die toten Mädchen von Villette
Augen hatte, warum auch immer. Was war denn mit ihr los?
Julie verschwand in Richtung Kaffeeküche, und als das Geräusch ihrer Absätze hinten auf dem Korridor erstarb, steckte jemand seinen Kopf durch die Tür. Es war Serge Boissard, einer der Kriminalinspektoren.
– Madame Poirot, sagte er leise, können Sie mit in den zweiten Stock runterkommen, wir haben ein kleines Problem, da müssen Sie bei der Besprechung dabeisein.
Martine folgte ihm hinaus auf den Korridor. Als sie zur Kaffeeküche sah, legte er einen Finger auf seine Lippen. Was war nur passiert?
Der Raum im zweiten Stock war voller Leute, und der Gestank von Schweiß, Adrenalin und Zigaretten war noch aufdringlicher, als er während der Nacht gewesen war. Christian de Jonge saß mit aufgekrempelten Hemdsärmeln und verrutschtem Schlips auf einem Schreibtisch. Er winkte Martine zu.
– Setz dich, sagte er, wir haben eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, daß das Personal im La Cave du Cardinal Sabrina Deleuze wiedererkannt hat und wußte, welche Jungens es waren, mit denen sie und ihre Freundinnen geredet haben, und die noch bessereNachricht ist, daß der Chef einer Tankstelle an der Landstraße nach Givray hundertprozentig sicher ist, daß einer der Jungens dort kurz nach halb elf mit einem grünen Lastwagen getankt hat und also sehr wohl die Mädchen an der Straße aufgelesen haben kann.
Das waren ja großartige Nachrichten, dachte Martine, was wäre, wenn sie den Mordfall schon am ersten Tag lösen konnten. Was für eine Erleichterung für die ganze Stadt, vom Bürgermeister bis zu den vielen Eltern in Villette.
– Und was ist das Problem? fragte sie.
Christian seufzte und strich sich mit der Hand über den kurzen dunklen Bart.
– Das Problem ist, sagte er, der junge Mann, der im La Cave du Cardinal mit Sabrina Deleuze geflirtet hat, der junge Mann, der mit einem Lastwagen auf der Straße Richtung Tatort gefahren ist, gerade als die Mädchen vermutlich dort gingen – ist Jean-Pierre Wastia, Julie Wastias Cousin.
Christians Worte trafen Martine wie ein Faustschlag in die Magengrube. Sie war froh, daß sie saß. Jean-Pierre Wastia, der Cousin, den ihre Rechtspflegerin als einen kleinen Bruder betrachtete. Jean-Pierre Wastia, der Kommandosoldat, der mit der belgischen UN-Truppe in Ruanda gewesen war.
– O nein, sagte sie, wie schrecklich für Julie!
Ihr erster Gedanke galt Julie, aber der zweite der Morduntersuchung. Julie konnte offensichtlich an dem Dreifachmord nicht weiterarbeiten, und dann konnte sie genausogut frei bekommen. Aber die Arbeit durfte nicht liegenbleiben.
– Jemand muß Julie als meine Rechtspflegerin bei dieser Voruntersuchung ersetzen, und das muß sofort passieren, sagte sie.
Christian nickte.
– Schon erledigt. Agnes Champenois ist auf dem Weg hierher, sie kann auf jeden Fall heute für dich arbeiten, sagte er.
– Gut, sagte Martine, denn wir brauchen einen Hausdurchsuchungsbefehl. Wir fahren raus zu Schrott-Bernards Hof, sobald wir genug Leute haben.
– Du fährst also mit? sagte Christian.
Untersuchungsrichter waren bei Hausdurchsuchungen selten dabei, wenn es nicht um sensible Angelegenheiten ging, wie Ärzte und Rechtsanwälte mit vertraulichen Informationen in Praxis und Kanzlei.
– Doch, sagte Martine, diese Voruntersuchung ist so wichtig, daß ich besser mitkomme. Aber zuerst muß ich wirklich mit Julie reden.
Christian machte eine zustimmende Geste, aber Serge Boissard schien zu zweifeln.
– Aber stellen Sie sich vor, wenn sie den Burschen warnt … sagte er.
– Julie Wastia ist eine beispielhafte Mitarbeiterin, die mein volles Vertrauen hat, und es ist nicht ihre Schuld, daß sie in eine Situation geraten ist, die bewirkt, daß sie bei diesem Fall nicht mitarbeiten kann, sagte Martine scharf. Ich will nichts davon hören, daß sie versuchen könnte, die Voruntersuchung zu sabotieren!
Serge Boissard zuckte die Achseln, sah aber nicht ganz überzeugt aus.
Julie saß am Schreibtisch und starrte leer vor sich hin.
– Ich hab dein Brot aufgegessen, sagte sie, ich hatte plötzlich das Gefühl, ich werde ohnmächtig, wenn ich nicht was in den Magen kriege. Etwas sagt mir, daß du gerade erfahren hast, warum ich im Moment nicht arbeiten will.
Martine setzte sich an den Schreibtisch und begegnete Julies Blick. Ihr war elend zumute. Es war wahr, daß sie Julie vertraute, aber sie mußte trotzdem ein paar lästige Fragen stellen.
– Es geht um deinen Cousin
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