Die toten Mädchen von Villette
Alice, das ist auch mein Gefühl, das Ganze hat etwas sehr, sehr Kaltes. Keine Panik, alles sauber und ordentlich. Er weiß, was er tut, das ist kein Amateur, der diese Mädchen ermordet hat. Ich muß sagen, das läßt mich zweifeln, ob der Junge, den ihr festgenommen habt, der richtige Mann ist.
– Aber Jean-Pierre ist kein Amateur, sagte Martine düster, er ist Kommandosoldat und zum Töten ausgebildet.Man kann genausogut sagen, daß das Professionelle dieses Tötens gegen ihn spricht.
– Stimmt, sagte Alice, aber was mich frappiert, ist, welche Risiken der Mann eingegangen ist. Die Mädchen waren nicht viel mehr als eine Stunde tot, als ich dorthin kam. Sie waren immer noch warm an exponierten Teilen ihrer Körper, es gab nur eine erste kleine Andeutung von Leichenflecken im Nacken und an den Ohren bei Peggy und Nadia, und die Leichenstarre war noch nicht eingetreten. Das bedeutet, daß die Jungen, die sie gefunden haben, dem Mörder dicht auf den Fersen gewesen sein müssen. Er muß sich seiner sehr sicher gewesen sein.
– Wenn nicht die Jungen, die sie gefunden haben, die Täter sind, natürlich, sagte Martine, aber vor allem der Form halber. Es fiel ihr schwer, sich den pickeligen, nervösen Gregory, den sie am Tatort getroffen hatte, in der Rolle des eiskalten Mörders vorzustellen.
– Soll man es als Sexualverbrechen sehen? fragte sie. Ich habe ja gehört, was du während der Obduktion gesagt hast, Alice, aber kannst du es für uns zusammenfassen.
– Ja, sagte die Ärztin. Peggy und Nadia sind also keiner sexuellen Gewalt ausgesetzt worden. Sabrina dagegen ist ein Gegenstand in die Vagina getrieben worden, aber allem Anschein nach nach dem Tod, es gab fast kein Blut.
– Was für ein Gegenstand? fragte Martine.
– Kein Messer oder so etwas, sagte Alice Verhoeven, nichts Spitzes, sondern etwas Stumpfes, und ziemlich groß. Ein klobiger falscher Penis? Wenn der Täter ejakuliert hat, während er es tat, könnte man am Tatort vielleicht Spermaspuren finden?
– Aber das haben wir nicht, sagte Martine, zumindest klang es vor ein paar Stunden nicht so. Aber warum dieseSonderbehandlung von Sabrina? Es wirkt so, als wäre sie das eigentliche Ziel gewesen und als wären Peggy und Nadia nur zufällig in die Quere gekommen. Und was hattest du noch über den Mageninhalt gesagt, Alice? Das klang ein bißchen überraschend.
– Tja, der Mageninhalt, sagte die Ärztin. Das war schon etwas merkwürdig. Sie hatten gegessen, unmittelbar bevor sie ermordet wurden, so kurze Zeit vor dem Tod, daß fast kein Verdauungsvorgang eingetreten war. Wir müssen es noch genauer analysieren, aber ich würde sagen, sie hatten Gänseleber und Erdbeeren gegessen. Und sie hatten Champagner getrunken.
Gänseleber und Champagner? Martine und Agnes starrten Alice verblüfft an. Martine versuchte sich vorzustellen, wie Jean-Pierre Wastia in seinen Armeestiefeln und Tarnhosen einen Picknickkorb mit Champagner, Gänseleber und Erdbeeren in Schrott-Bernards Lastwagen lud und den drei Mädchen servierte, nachdem er sie an der Straße aufgelesen hatte.
Das Bild wollte sich nicht halten. Es wirkte einfach falsch und unwahrscheinlich.
Und ihre Zweifel daran, daß sie den richtigen Mann verhaftet hatten, wurden immer stärker.
KAPITEL 7
Sonntag, 26. Juni 1994
Villette & Brüssel
Sabrina Deleuze, die davon geträumt hatte, ein Star zu werden, bekam ihren ersehnten Auftritt im Rampenlicht, als ihr kurzes Leben geendet hatte. Martine frühstückte im Wohnzimmer, während sie die Morgensendungen der Fernsehkanäle anschaute, in denen der Dreifachmord von Villette mit dem Sieg Belgiens über Holland bei der Fußball-WM konkurrierte. Es schien, als besäße jeder Kanal Bilder von Sabrina während und nach der Johannisprozession, und Martine dachte, sie hätten sie vielleicht in den eigenen Reportagen mit Hilfe der Bilder gefunden, die auf ihrer Pressekonferenz am Samstag ausgeteilt worden waren.
Martine stopfte Schokoladenbrioches in sich hinein, während sie das ermordete Mädchen im hautfarbenen Trikot und schimmernden orientalischen Schleiern auf dem Salome-Wagen tanzen sah. Die BBC hatte Sabrina nach der Prozession interviewt, und es war herzzerreißend zu sehen, wie sie die Locken schüttelte und mit den Augen funkelte und in holperigem Schulmädchenenglisch erklärte, die Johannisprozession »is a tradition very old, but we the young people of Villette like it very much too«.
– Es gefällt mir, dich Schokoladenbrioches essen zu
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