Die toten Mädchen von Villette
Martine.
– Ja, sicher, sagte er, Martine, darf ich vorstellen, Nigel Richards, ein alter Bekannter aus Brüssel. Nigel, meine Schwester, Madame Héger.
Der Engländer beugte sich über ihre Hand, als habe er die Absicht, sie zu küssen.
– Entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madame, sagte er feierlich in tadellos akzentfreiem Französisch. Er ließ sich neben Philippe nieder, Martine gegenüber. Sie fragte sich, wo sie ihn schon gesehen hatte. Sie erkannte dieses lange, englische Gesicht und den zerknitterten, zweireihigen Anzug wieder, sie hatte beides vor ganz kurzer Zeit irgendwo gesehen. Dann kam sie darauf.
– Sie sind Journalist, stimmt’s, sagte sie vorwurfsvoll. Sie waren auf der Pressekonferenz heute.
Nigel Richards hob abwehrend die Hände.
– Schuldig, sagte er und lächelte, aber ich verspreche, ich werde nicht versuchen, Sie wegen der Untersuchung auszuquetschen.
Martine sah mißtrauisch Philippe an, der ihrem Blick auswich. Er sah mit gesenkten Lidern in seine Kaffeetasse, so daß seine widerlich langen Wimpern Schatten auf die Wangenknochen warfen.
– Dann werde ich vielleicht die Gelegenheit benutzen und Sie statt dessen ausquetschen, sagte sie. Sie waren doch heute auf der kommunalen Pressekonferenz nach dem Empfang? Wie war die?
Richards zuckte die Achseln.
– Wie zu erwarten, sagte er, die Verantwortlichen im Rathaus haben einen ordentlichen Job gemacht, schicke Broschüren, gute Argumente geliefert, und vielleicht gibt es irgendwann eine Reportage in einer Wochenendbeilage oder einem Kulturteil. Aber heute will ja keine Heimatredaktion was anderes als den Dreifachmord von Villette haben. Pech für die Stadt, daß das passieren mußte, während die ganze Weltpresse hier ist.
Er hatte einen Block herausgenommen und einen Filzstift. Hätte er angefangen, Notizen zu machen, wäre sieaufgestanden und gegangen, aber er schien etwas zu skizzieren.
– Die Prozession war ja ein ganz eindrucksvoller Anblick, sagte Richards, ist sie jedes Jahr so großartig? Aber Sie sind vielleicht noch nicht lange genug in Villette, um ein Bild davon zu haben, Sie sind ziemlich neu als Untersuchungsrichterin, glaube ich?
– Ja, sagte Martine, aber ich wohne hier seit acht Jahren, ich habe ursprünglich als Rechtsanwältin gearbeitet. Und die Prozession war schon beim ersten Mal, als ich sie vor acht Jahren gesehen habe, überwältigend, obwohl man dieses Jahr besonders viel investiert hat. Hören Sie, Sie sprechen phantastisch französisch, muß ich sagen. Fast alle Engländer haben normalerweise einen schrecklichen Akzent, auch wenn sie die Grammatik beherrschen.
Philippe sah von seiner Kaffeetasse auf.
– Ja, sagte er säuerlich, ein verborgenes Talent, scheint mir. Ich habe mich immer bemüht, mit dir hier einigermaßen englisch zu sprechen, und dann zeigt sich, daß dein Französisch viel besser ist als mein Englisch.
Nigel Richards lächelte schwach.
– Oh, sagte er schleppend, ich habe einen recht großen Teil meiner Kindheit in französischsprachigen Ländern verbracht. Aber man will ja gern dabei
mitwirken, die Stellung der englischen Sprache in der Kommission zu stärken, you know.
– Und was zeichnest du da, fragte Philippe, weitere verborgene Talente?
– Vielleicht, sagte Richards und drehte Martine seinen Block zu, was meinen Sie?
Es war ein Porträt von ihr, mit ein paar leichten, schnellen Strichen im Halbprofil eingefangen, staunenerregendähnlich für eine Zeichnung eines Menschen, dem sie nie zuvor begegnet war.
– Sie sind ja ein richtiger Künstler, sagte Martine, warum arbeiten Sie als Journalist, wenn Sie so gut zeichnen?
– Ich bin in meiner Jugend ein paar Jahre auf die Kunstschule gegangen, sagte er, aber dann bin ich auf bessere Gedanken gekommen. Aber manchmal kann ich davon Gebrauch machen, bei Prozessen und wenn ich Porträts schreibe, das ist ein bißchen meine Signatur. Und Sie, wollten Sie schon immer Juristin werden, oder hatten Sie als Mädchen andere Träume?
– Immer, sagte Martine, schon als ganz kleines Mädchen habe ich entschieden, daß ich Polizistin oder Anwältin oder so was werden würde. Mein Vater war Polizeikommissar, und ich habe zu ihm aufgesehen.
Sie ahnte, daß Richards vorhatte, etwas über sie zu schreiben, und genau das konnte er gern erzählen. Aber mehr persönliche Details wollte sie nicht verraten. Sie sah auf ihre Armbanduhr und stand auf.
– Ich muß jetzt gehen, sagte sie. Wir hören voneinander, Philippe.
Sie
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