Die toten Mädchen von Villette
Jean-Pierres Vater und Julies Onkel, hatte seine Autofirma in dem ziemlich heruntergekommenen Viertel hinter dem Bahnhof, aber doch an einer noch einigermaßen respektablen Straße, an der sich untrendige Bars, Cafés, Fernsehverleihfirmen und Läden drängten, die billige Möbel und elektrische Haushaltsgeräte verkauften. Über seine Geschäfte gab es viele Gerüchte, es hieß, er habe Mafiakontakte in Italien wie auch in Osteuropa. Martine hatte keine Ahnung, wieviel von den Gerüchten wahr war. Sie selbst würde einen Gebrauchtwagen nie bei Bruno Wastia kaufen. Aber Vandalismus war etwas anderes – hier hatte sie genau die Lynchstimmung, vor der sie Angst gehabt hatte.
– Es ist wirklich ziemlich lustig, sagte Julie, ohne im geringsten amüsiert auszusehen, dabei war es mir gerade gelungen, Bruno davon zu überzeugen, daß es keine gute Idee wäre, als Retourkutsche die Reifen deines Autos zu zerschneiden. Aber offensichtlich ist diese Methode nicht nur in meiner Familie beliebt. Ich glaube, ich fahre raus zum Hof meines Großvaters und hole Aki und Amar, damit siebei Bernard aufpassen. Oder vielleicht nur Amar, es muß auch jemand auf dem Hof aufpassen, wenn Großmutter und Großvater weg sind.
Eine Serviererin kam, um Martines Bestellung aufzunehmen. Sie sah Martine und Julie neugierig an, als ob sie sie erkannte. Martine bat um einen doppelten Espresso und ein Schokoladenbrioche. War sie dabei, ihre Periode zu bekommen? Sie war so unglaublich gierig auf Schokolade. Nun, sie hatte keine Zeit, darüber enttäuscht zu sein.
– Wo sind deine Großeltern? fragte Martine, als die Serviererin gegangen war.
– Im Ausland, sagte Julie, sie sind mit Jerry nach Tschechien gefahren, »Geschäftsreise« nennt er das, und ich glaube nicht, daß ich wissen will, was das bedeutet. Aber jetzt sind sie natürlich auf dem Heimweg.
Sie rührte lustlos in ihrem Cappuccino und sah mit einer Miene, die Martine noch nie bei ihr gesehen hatte, hart und beinah verächtlich, über das Menschengewimmel auf dem Platz hinaus.
– Sie wissen, was passieren kann, verstehst du, sagte Julie. Sie haben so was schon erlebt. Im Krieg waren sie zuerst kurz davor, als Zigeuner in die Lager nach Deutschland deportiert zu werden, ein aufmerksamer Bewohner von Villette hatte den deutschen Behörden hier in der Stadt einen Tip gegeben. Aber es ist ihnen gelungen, sich irgendwie versteckt zu halten. Dann nach dem Krieg hat ein anderer freundlicher Nachbar Großvater als Kollaborateur angezeigt. Das war natürlich dummes Zeug, Großvater hat im Krieg Geld verdient, aber er hat wirklich nicht mit den Deutschen zusammengearbeitet, er hat sie reingelegt, wie er alle anderen reingelegt hat. Aber Großmutter und Großvater wurden interniert, sie saßen mehrere Monate in einemLager, gerade als Großmutter mit Maman schwanger war, und Bruno und Jerry landeten in einem schrecklichen Kinderheim. Bruno war damals vier, und Jerry war ein Jahr alt. Aber Großvater wurde nie angeklagt. Ein junger Militärankläger, Jean Heyse, kam zu dem Ergebnis, daß Großvater nicht getan hatte, wessen er angeklagt war. Maman hat öfter davon erzählt. Sie selbst war damals ja noch nicht geboren, aber Jean Heyse war der Gott der Familie, als sie klein war. Und als ich Mamans Geschichten hörte, habe ich beschlossen, daß ich auch für das Recht arbeiten wollte. Denn da gab es Leute, die der Ansicht waren, daß man ebensoviel wert war und dieselben Rechte hatte wie alle anderen, auch wenn man Schrott-Bernard Wastia war.
Sie lächelte schief. Martine war von unangenehm gemischten Gefühlen erfüllt. Sie schämte sich, weil sie erkannte, wie wenig sie tatsächlich von Julie wußte, aber gleichzeitig war sie paradoxerweise neidisch auf ihre Rechtspflegerin. Julie war nicht einmal bei ihrer Mutter aufgewachsen, trotzdem wußte sie mehr von Josette Wastias Geschichte als Martine von der ihrer eigenen Mutter. Die Ereignisse während des Krieges hatten sie beide über ihre Mütter gezeichnet. Aber Julie erkannte die Unterströmungen der Vergangenheit, wußte, woher sie kamen und wohin sie sie führten. Martine empfand den dunklen Sog der Vergangenheit, aber es war, als sehe sie in einen Brunnen ohne Grund, ein schwarzes Loch, das sie unwiderstehlich an sich zog.
– Was ist deine Familie eigentlich, sagte sie, ich meine, du hast gesagt, daß sie beinah als Zigeuner deportiert worden wären, seid ihr das?
– Ich glaube, man soll heute »Roma« sagen, sagte Julie, nein, ich
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