Die toten Mädchen von Villette
die Nachforschungen runterzufahren.
– Sie lassen sich selbstverständlich nicht davon beeinflussen, daß der Mann, den Sie festgenommen haben, mit Ihrer Rechtspflegerin verwandt ist, sagte Santini hinterhältig.
Sie wurde wütend.
– Da haben Sie recht, das mache ich nicht. Aber Sie wissen, daß ich als Untersuchungsrichterin verpflichtet bin, nicht nur die Beweise zu suchen, die gegen den Verdächtigen sprechen, sondern auch die, die für ihn sprechen. Und das mache ich jetzt.
– Aha, sagte er, das war ja doch eine Art Antwort. Vielen Dank, Madame, viel Glück bei der weiteren Mörderjagd.
Sie knallte den Hörer auf. Ihre Brustwarzen waren nicht mehr hart.
– Es macht mich an, wenn ich höre, wie tough du mitKommunalbonzen bist, sagte Thomas, aber jetzt haben wir die Gelegenheit vielleicht verpaßt?
Sie hörten, wie sich Tatia im Gästezimmer im ersten Stock bewegte.
– Leider, Professor, ein andermal, sagte sie.
– Ein andermal, Frau Richterin, stimmte er ein.
Tatia kam im weißen Bademantel und vor dem Gesicht hängenden, roten Haaren die Treppe heruntergelatscht. Bernadette hatte sich nicht gefreut, als Tatia zu Hause angerufen und von ihrem neuen Sommerjob erzählt hatte. Es war ihr gelungen, Martine zu erreichen, als diese nach der Obduktion zurückkam, und hatte verlangt, sie solle dafür sorgen, daß Tatia nach Hause fuhr. Martine überbrachte Bernadettes Nachricht abends beim Essen. Aber Tatia wollte nicht nach Hause fahren, sie wollte bleiben und anfangen, mit Sophie zu arbeiten. Philippe, der sonst aus Prinzip Bernadette fast nie zustimmte, war offenbar auch der Meinung, daß seine Tochter nach Brüssel zurückfahren sollte, aber Tatia hatte argumentiert, daß es dort genauso gefährlich sei, und erzählt, wie jemand versucht hatte einzubrechen, als sie mit ihrem kleinen Bruder Josi allein war.
Schließlich hatte Bernadette nachgegeben, nachdem Sophie sie angerufen und versprochen hatte, wie ein Habicht persönlich über Tatia zu wachen. Sophie konnte ziemlich überwältigend sein. Außerdem war Bernadette in jüngeren Jahren eine hingebungsvolle Bewunderin des schwedischen Films und besonders von Eskil Linds Werk gewesen.
– Guten Morgen, sagte Tatia und gähnte. Was sind die Pläne für heute, habt ihr gedacht, ich soll hier drinnen hocken und stricken, damit sich Maman keine Sorgen machen muß?
– Nein, du kannst mit Sophie und mir mitkommen undDrehorte anschauen, wenn du willst, sagte Thomas. Wir haben eine private Vorführung des Kostümmuseums im Rathaus. Das kann schon interessant für dich sein, die haben phantastische Sammlungen, die der Öffentlichkeit selten gezeigt werden.
Tatias Gesicht hellte sich auf.
– Souverän, sagte sie, das mache ich gern. Aber was ist mit meinen Kleidern? Ich habe einen Koffer mit alten Kleidern, mit denen ich im Sommer arbeiten wollte. Den würde ich gern hierherschaffen.
– Ich glaube, Sophie kann auch das regeln, sagte Thomas. Sie will heute nachmittag sowieso nach Brüssel und unsere Schwester Stina besuchen, und sie macht sicher gern einen kleinen Abstecher zu dir und holt den Koffer. Aber das beste ist wohl, du rufst selbst Bernadette an und redest mit ihr.
– Sure, murmelte Tatia, sank aufs Sofa und schnappte sich das letzte Schokoladenbrioche. Ist das alles, was ihr habt? Denkt daran, daß ich ein Teenager bin, der noch wächst und Nahrung braucht.
Sie leckte sich die Schokolade von den Fingern und sah Thomas auffordernd an.
Das Telefon klingelte wieder. Martine hob ab. Diesmal war es Julie.
– Bitte, Martine, sagte sie, ich möchte dich treffen. Eine Tasse Kaffee im Café de la Cathédrale, bevor du zur Arbeit gehst? Zwanzig Minuten, höchstens.
Martine zögerte. Aber Julie war ihre Freundin. Sie konnte sie nicht im Stich lassen. Sie verabredeten, sich in einer Dreiviertelstunde im Café zu sehen.Es war ein strahlend schöner Junisonntag. Der Fluß glitzerte von Sonnenreflexen, und die Ausflugsboote waren vollbesetzt, ebenso wie die Straßencafés auf der Place de la Cathédrale. Julie saß schon an einem Tisch, einen Cappuccino vor sich. Sie sah müde aus, und als sie die Sonnenbrille abnahm, sah Martine die dunklen Ringe unter ihren Augen.
– Hast du gehört, was passiert ist? fragte sie. Nein, das hast du natürlich nicht, ich habe es gerade bei der Polizei angezeigt. Jemand hat heute nacht Brunos Firma verwüstet, die Fenster zerschlagen und auf alles »Mörder« gesprayt, sogar auf die Autos.
Bruno Wastia,
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