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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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gehen? Vor ihr bog die Straße um eine Ecke, und sie wußte nicht, was sie hinter der Biegung erwartete. Hinter ihr endete die Straße an einer Treppe. Auf beiden Seiten öffneten sich weitere Gassen, aber sie wußte nicht, wohin sie gingen. Sie hörte Schritte, aber sie wußte nicht, woher sie kamen.
    In dem Haus links wurde eine Tür geöffnet, und eine weißhaarige Frau kam auf die Straße. Tatia rannte fast auf sie zu.
    – Entschuldigen Sie, Madame, sagte sie, ich wollte zur Kathedralbibliothek, aber anscheinend habe ich mich verlaufen.
    Die Frau lächelte sie freundlich an.
    – Ja, es ist leicht, sich hier zu verlaufen. Aber ich bin gerade auf dem Weg in diese Richtung, Sie können mit mir kommen, wenn Sie wollen, meine Liebe.
    Tatia fühlte sich matt vor Erleichterung und müde, als wäre sie einen Marathon gelaufen.

    Der Geruch von Blut und Eingeweiden, das kreischende Geräusch des Sägeblattes an den Schädelknochen – Martine war bei vielen Obduktionen dabeigewesen, hatte es aber nie geschafft, sich daran zu gewöhnen. Und diese hier war eine der beklemmendsten gewesen, die sie je erlebt hatte. Die drei zarten Mädchenkörper sahen im kalten Licht des Obduktionssaals so rührend aus. Sie erinnerten Martine an drei tote Vogeljunge, die sie nach einer stürmischen Nacht im Mai zu Hause im Gras gefunden hatte.
    – So, sagte Alice Verhoeven und schrubbte sich dieHände bis hinauf zu den Ellenbogen. Sie hatte die Schutzkleidung gegen ihre eigene Kleidung ausgetauscht, heute ein Crimplenekleid in Orange und Grün, das aussah, als habe sie es in der Grabbelkiste eines von Schließung bedrohten Kurzwarengeschäfts gefunden.
    – Das hier war hart, sagte sie, besonders wenn man eigene Töchter hat.
    Sie tauschte einen Blick des Einverständnisses mit Agnes Champenois aus. Alice Verhoeven hatte zwei erwachsene Kinder, eine Tochter und einen Sohn, und Agnes hatte fünfundzwanzigjährige Zwillingstöchter. Martine fühlte sich ausgeschlossen, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen. Sie hatte an Nadias Gemälde gedacht, als sie sah, wie das Gehirn des toten Mädchens bloßgelegt wurde, sie hatte an all die Träume und all die Begabung gedacht, die verlorengegangen waren, und sie hatte wieder an Tatia gedacht. Ich habe schließlich auch Gefühle, dachte sie rebellisch.
    – Wollen wir uns hier hinsetzen? sagte Alice. Ich nehme an, du willst nicht auf meinen förmlichen Bericht warten, Martine, du willst jetzt eine Zusammenfassung?
    Martine und Agnes setzten sich auf das durchgesessene Sofa in Agnes’ Dienstzimmer, und Alice rollte ihren Schreibtischstuhl zu ihnen.
    – Ja, genau wie ich dachte, sind die Mädchen erwürgt worden, sagte die Ärztin. Sabrina Deleuze ist mit Ligatur erwürgt worden, einem Schal oder so etwas, würde ich denken, weil die Schnürspur breit und ziemlich schwach ist. Peggy und Nadia Bertrand sind ohne Werkzeug erwürgt worden, vermutlich hat der Täter seinen gebeugten Arm gegen den Hals des Opfers gedrückt hat, so daß der Kehlkopf in der Armbeuge gelandet ist.
    Martine nickte nachdenklich. Es gab keinen Schal am Tatort, also mußte der Mörder ihn mitgenommen haben.
    – Wir müssen Sabrinas Familie fragen, ob sie einen Schal getragen hat, sagte sie zu Agnes, sonst muß ihn ja der Mörder bei sich gehabt haben, und das kann möglicherweise darauf hindeuten, daß der Mord geplant war. Alice, glaubst du, daß ein Täter alle drei getötet haben kann, oder sollten wir nach mehreren Mördern suchen?
    – Ich glaube, daß ein Täter alle Morde begangen haben kann, sagte Alice zögernd, wenn man von einem Überraschungsmoment ausgeht. Sabrina war ja unten am Fluß, für die beiden anderen Mädchen nicht zu sehen. Wenn wir uns vorstellen, daß sie mit dem Täter freiwillig dorthin gegangen ist, vielleicht, um ein bißchen zu poussieren, und er nimmt einen Schal heraus und legt ihn ihr um den Hals und sagt etwas Romantisches, »schau mal, Sabrina, dieser Schal paßt zu deinen schönen Augen«, und zieht ihn schnell zu, dann kann sie bewußtlos werden, bevor sie schreien kann und bevor die beiden anderen Mädchen etwas merken. Dann geht er rauf zu ihnen und überrumpelt Peggy, das geht schnell. Nadia dagegen versucht zu fliehen, aber sie stürzt und schürft sich die Knie, und sie hat keine Chance, als er sie einholt. Er erwürgt auch sie von hinten, deshalb kann sie ihn nicht im Gesicht kratzen oder sich wehren.
    Martine erschauerte.
    – Das klingt kalt, sagte Agnes.
    – Kalt, ja, sagte

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