Die toten Mädchen von Villette
warf dem Bruder einen finsteren Blick zu, als sie durch die Tür hinausging. Sie hatte den Verdacht, daß er diese Begegnung mit Absicht veranstaltet hatte, aber das mußte er wohl später erklären.
Tatia saß mit einem Glas Orangensaft und einem Sandwich mit gegrilltem Gemüse vor sich in einem sonnigen Straßencafé. Insgesamt war sie mit ihrem Tag zufrieden. Sie war zwischen den kleinen Läden in den schmalen, mittelalterlichen Gassen hinter der Kathedrale herumgestreift und hatte mehrere Funde gemacht. In der Plastiktüte auf dem Stuhl neben ihr lag ein abgenutztes Etui mit einerGarnitur Schmuck aus Steinkohle – Trauerschmuck aus den vierziger Jahren, hatte ihr der grauhaarige Mann in der Kellerboutique freundlich erklärt. Und auf dem winzigen offenen Platz hinter der Kathedralbibliothek hatte sie den besten Plattenladen gefunden, den sie je gesehen hatte, ein Ort, wo ihre schwarze Kleidung und ihr dunkellila Lippenstift mit Blicken des Einverständnisses, nicht mit verblüfftem Starren zur Kenntnis genommen wurden. In ihrer Tüte lag jetzt »Fairytales of Slavery« mit Miranda Sex Garden, die sie liebte, und ein neues Album von Corpus Delicti.
Aber sie fühlte sich trotzdem unerklärlich deprimiert. Sie hatte sich dafür entschieden, allein loszugehen, weil sie sich von allen Telefonen fernhalten wollte. Sobald die Nachricht von dem dreifachen Mord in Villette im Radio kam, würde ihre Mutter anrufen und verlangen, daß sie nach Hause käme, dessen war sie sich sicher. Bernadette machte sich ständig Sorgen, besonders nach dem Einbruchsversuch zu Hause vor zwei Wochen, obwohl Berts Alarmanlage denjenigen, der versucht hatte, in die Wohnung zu kommen, verscheucht hatte. Aber Tatia wollte in Villette bleiben, jetzt nachdem ihr Sophie einen so phantastischen Sommerjob angeboten hatte. Sie könnte schon am Montag anfangen, wenn sie wollte, und Sophie hatte sogar versprochen, daß Tatia mit ihr in der Wohnung wohnen konnte, die sie für die Dreharbeiten in Villette gemietet hatte. Tatia hoffte, daß es zutraf, daß Martine den Mörder schon festgenommen hatte. Wenn ja, war alles perfekt.
Aber wie konnte sie an den gewaltsamen Tod von drei gleichaltrigen Mädchen vor allem als Hindernis für ihre eigenen Sommerpläne denken? Gestern waren sie voller Leben und Zukunftsträume hier auf der Île St. Jean herumgelaufen, und jetzt lagen sie kalt und tot im Leichenschauhaus.Tränen traten ihr in die Augen, und sie versuchte, sie mit dem Handrücken abzuwischen. »Gush forth my tears«, dachte sie. Sie hatte diesen Song zum ersten Mal gehört, als sie dreizehn war und sich nach Philippe sehnte, der so unerklärlich aus ihrem Leben verschwunden war. Trauer, die zuzulassen sie nie gewagt hatte, war gefährlich nahe daran, ihre Dämme zu sprengen, wenn sie an die drei Mädchen in der duftenden Juninacht auf dem Weg in ihren Tod dachte. Noch eine Träne floß ihr die Wange hinunter, und sie fing sie mit der Zunge auf. Sie schmeckte heiß und salzig. Gush forth my tears … Plötzlich sehnte sie sich nach Bernadette, danach, sich in Mamans Armen zu verkriechen und sich wieder wie ein kleines Mädchen zu fühlen.
Direkt gegenüber dem Café, in dem sie saß, führte eine schmale Gasse zurück in das mittelalterliche Gewirr hinter der Kathedrale. Eine pechschwarze Katze kam aus einem Hof spaziert und überquerte mit federnden Schritten die Gasse. Sie hatte etwas im Maul, sah Tatia, eine Maus, die sie auf das Steinpflaster fallen ließ, nur um sie schnell wieder einzufangen. Tatia erschauerte.
Vielleicht sollte sie zurückgehen und noch ein paar Platten kaufen, um etwas fröhlicher zu werden. Sie legte Geld auf den Tisch und ging wieder in die Gassen hinein. Sie glaubte, sie wisse, wie sie gehen mußte, aber plötzlich hatte sie sich zwischen sich windenden Sträßchen und Passagen verlaufen. Die Häuser standen so dicht, daß kein Licht bis nach unten kam, und sie konnte nichts sehen, woran sie sich hätte orientieren können. Sie wußte nicht einmal, in welcher Richtung der Fluß war, und nirgends war ein Mensch, den sie nach dem Weg fragen konnte. Sie wurde von Panik ergriffen, ein lächerliches Gefühl an einem sonnigen Nachmittag mitten in der Stadt, aber sie stieg in ihr auf, heftigwie eine Frühjahrsflut, genau wie damals, als sie bei Denise van Espen auf der Treppe stehengeblieben war. Aber diesmal war es mehr als Panik, es war reine Furcht. Alle Warnsysteme im Körper brüllten »Flieh!«, aber wohin sollte sie
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