Die toten Mädchen von Villette
sein.
Es waren nicht viele Anrufe nötig gewesen, um Giovanni zu lokalisieren, als Philippe sich einmal entschlossen hatte, den Hintergrund von Eric Janssens Tod zu erforschen. Brüssels Schwulenwelt war ein recht begrenzter Kreis, und er kannte dort die meisten.
– Ja, ganz furchtbar, sagte Giovanni empfindsam und schüttelte die bronzefarbenen Locken, aber willst du damit sagen, daß du ihn nie getroffen hast, als er noch lebte? Es war ihm viel daran gelegen, mit dir in Kontakt zu kommen.
– Nein, sagte Philippe, er hat mich angerufen, und wir haben uns verabredet, aber als ich da hinkam, war er offenbar schon tot. Deshalb wollte ich dich treffen, ich habe mich gefragt, ob du eine Ahnung hast, was er von mir wollte.
Giovanni runzelte die Stirn.
– Nein, nicht wirklich, sagte er, es war etwas mit einem alten Brief, den er gefunden hatte, ich fürchte, ich habe nicht so genau zugehört, als er davon geredet hat.
Philippe spitzte die Ohren. Ein alter Brief, das warjedenfalls eine Bestätigung dafür, daß Eric von den Ereignissen während des Krieges etwas erfahren hatte. Und etwas mußte aus Giovanni wohl rauszukriegen sein.
Während seiner Zeit als Praktikant in der Anwaltskanzlei vor vielen Jahren war Philippe oft ausgeschickt worden, um Zeugen zu befragen, und er war gut darin gewesen.
– Wir fangen von vorn an, sagte er, denk jetzt zurück, wann fing Eric an, von diesem alten Brief zu reden?
Giovanni stützte das Kinn in die Hand und sah kleidsam nachdenklich aus.
– Ein paar Wochen bevor er starb, sagte er, ja, das muß gewesen sein, als er angefangen hat, den Dachboden aufzuräumen. Er hatte ein paar alte Kisten und Koffer auf dem Boden, die er loswerden wollte. Ich war mit ihm oben, und alles war total staubig, zentimeterweise alter Staub, man mußte sich die Haare waschen und sich umziehen, wenn man das Zeug nur angeguckt hat! Aber diese göttliche Antiquitätenhändlerin, die er kennt, kam mit ein paar Möbelpackern an und nahm alles mit.
– Antiquitätenhändlerin, sagte Philippe, meinst du Denise van Espen? Was ist denn Göttliches an ihr?
Giovanni riß erstaunt seine hellbraunen Augen auf.
– Aber ich bitte dich, sie ist doch wie eine Puppe, findest du nicht, so perfekt! Wie Grace Kelly, so kühl und bezaubernd, aber dabei immer mit einem Detail, das das bricht. Ich würde sie gern anziehen, stell dir Grace Kelly in »Rear Window« vor, oder im Dreißiger-Jahre-Stil.
Philippe mußte lachen. Er erinnerte sich, daß Tatia tatsächlich etwas Ähnliches gesagt hatte. Er fühlte sich plötzlich alt und gesetzt.
– Du klingst wie meine Tochter, sagte er. Giovanni riß die Augen noch einen halben Millimeter weiter auf.
– Du hast eine Tochter, sagte er, nee, das ist doch nicht wahr?
– Doch, wirklich, sagte Philippe. Aber wie war das mit diesem Brief, war er in einer der Kisten?
– Ich glaube, ja, sagte Giovanni. Weißt du, Eric öffnete bei allen den Deckel, und in einigen waren alte Kleider, in einem alte Schulbücher, und er hatte nicht den Nerv, alles durchzugehen, aber er hat ein paar Sachen rausgenommen.
– Weißt du, wie alt die Sachen waren? fragte Philippe. Giovanni runzelte wieder die Stirn.
– Uralt, so aus dem Krieg, als Eric klein war. Er hat manchmal von dieser Zeit geredet, aber das war so traurig und deprimierend, daß ich kaum zuhören konnte. So in der Art, er hatte eine wunderbare Familie mit netten Eltern und einer großen Schwester, die er vergötterte, aber Eric hatte ein Problem mit den Lungen, deshalb mußte er mitten im Krieg mit seiner Maman in eine Klinik in der Schweiz fahren, und als sie zurückkamen, als der Krieg vorbei war, waren alle tot! Die Gestapo oder die Militärverwaltung oder sonst wer war gekommen und hatte seinen Papa und seine Schwester ins Gefängnis geworfen, und die Schwester war in Ravensbrück gelandet und gestorben, und der Papa war in einem Lager in Belgien gestorben, ihr hattet da wohl auch Lager?
– Berendonk vielleicht, sagte Philippe, und Giovanni nickte eifrig:
– Genau, Berendonk hieß das. Ja, und dann wohnte Eric mit seiner Maman zusammen, bis sie vor sechs, sieben Jahren starb, und sie war es wohl, die die Koffer angeschleppt hat. Ach ja, und dann war da der Brief, ja. Ich glaube, er hat ihn in der Kiste mit Schulbüchern gefunden. Da war eine Art Briefmappe aus rotem Leder, man konnte siezusammenklappen, so daß sie wie ein Buch aussah, das mit Bändern zusammengeknotet wurde, und wenn man es auseinanderklappte, war
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