Die toten Mädchen von Villette
eingefallen, daß Sabrina Deleuze hier ihrem Mörder hätte begegnen können, und hatten sie Glück, konnte ein Fernsehfotograf die Begegnung zufällig eingefangen haben. Sie hatte auch zusammen mit dem Pressesprecher der Staatsanwaltschaft eine Verlautbarung mit einer Bitte an alle Fotografen,Amateure und Profis, formuliert, Bilder abzugeben, die von Interesse sein konnten. Sie rechnete damit, daß diese in den Radionachrichten kommen und Fotografen in den Redaktionen erreichen würde, wo ihre Bitte auf dem Fax landete.
Jetzt hatte Martine eine kleine Gruppe im Konferenzraum versammelt, um die neue Wendung, die die Voruntersuchung des Dreifachmordes durch die Verbindung zum zwölf Jahre alten Christelle-Mord genommen hatte, zu diskutieren. Christian de Jonge und Alice Verhoeven waren selbstverständlich dabei, Willy Bourgeois war da, weil er an der alten Untersuchung teilgenommen hatte, und Annick Dardenne, weil sie angefangen hatte, die Zeugenbefragungen durchzugehen, und vielleicht Parallelen finden konnte.
Die Bilder der ermordeten Christelle lagen ausgebreitet vor Martine. Willy Bourgeois hatte recht gehabt – sie waren den Bildern von Sabrina Deleuze schauerlich ähnlich. Dieselbe Stellung, das tote Mädchen an einem Baum arrangiert, die Hände hinter dem Rücken, die langen blonden Haare auf dieselbe Weise über den Schultern ausgebreitet.
Alice Verhoeven saß da und las das Obduktionsprotokoll.
– Es ist derselbe Täter, sagte sie, gar kein Zweifel. Die gleiche Mordmethode, die gleiche halbherzige Vergewaltigung mit einem Gegenstand nach dem Tod, und am allerunglaublichsten, der gleiche Mageninhalt. Das, meine ich, entscheidet die Sache. Schau hier, Gänseleber und Erdbeeren.
Sie reichte das Protokoll zu Martine hinüber, die es eilig durchsah und um den Tisch weitergab.
– Was habt ihr damals geglaubt, sagte Martine zu Willy Bourgeois, hattet ihr einen Verdächtigen?
Er kratzte sich am Kopf.
– Ja, das Mädel hatte einen früheren Freund, den sie ein paar Wochen vor dem Mord hatte fallenlassen, ein recht unangenehmer Typ, der seine Damen gern verprügelte. Der Kommissar, den wir damals hatten, war fast sicher, daß er es war, aber ich hatte meine Zweifel, die Sache mit der Gänseleber schien nicht ganz sein Stil zu sein. Es ist uns jedenfalls nicht gelungen, ihn mit dem Mord in Verbindung zu bringen.
Ebenso wie Sabrina Deleuze und die Schwestern Bertrand war Christelle Rolland in der Nähe des Flusses ermordet worden, aber am anderen Ufer. Es gab eine Bushaltestelle einen knappen Kilometer vom Tatort, und Christelle war zuletzt lebend gesehen worden, als sie gegen fünf an dem Samstag, an dem sie ermordet wurde, aus dem Bus ausstieg.
– Er verabredet sich mit ihnen, sagte Martine nachdenklich, er wählt Stellen aus, wo sie allein hinkommen können, so daß er das Risiko, daß jemand sie zusammen sieht, verringert. Unser Mord hat ja auch in Gehweite einer Bushaltestelle stattgefunden, auch wenn die Mädchen den Bus verpaßt hatten.
– Eines ist jedenfalls klar, sagte Christian grimmig, Jean-Pierre Wastia hat Christelle Rolland nicht ermordet, er war 1982 erst acht Jahre alt. Aber was ich mich frage, ist, wo hat dieser Bursche seit 1982 gesteckt? All dieses Arrangieren und Posieren riecht nach Serienmörder, und zwölf Jahre sind eine etwas lange Pause für so einen, oder?
– Wenn es sein erster Mord war, schlug Martine vor, und er seitdem von Phantasie gelebt hat?
– Das war nicht sein erster Mord, sagte Alice Verhoeven bestimmt, die Tat hatte nichts Unsicheres oder Zögerndes. Die Vorgangsweise ist genau dieselbe wie bei unseremMord, als hätte er sich an eine eingeübte Routine gehalten, es ist … ja, ich kann kein anderes Wort finden, »elegant«. Es ist ein elegant ausgeführter Mord. Und wo er seitdem gewesen ist, ja, er kann wegen etwas anderem im Gefängnis gesessen haben oder im Irrenhaus. Oder er ist nicht aus Villette und war nur vorübergehend zu Besuch hier.
Ein düsteres Schweigen senkte sich bei dem Gedanken an einen unbekannten Serienmörder auf vorübergehendem Besuch in Villette über den Tisch.
– Erzähl von Christelle, sagte Martine zu Willy Bourgeois, wer war sie, was machte sie, welche Träume hatte sie?
Willy Bourgeois saß da und betrachtete Annick Dardennes lange, sonnenverbrannte Beine unter dem Jeansrock und war so abgelenkt von ihnen, daß er zunächst nicht merkte, daß Martine ihn ansprach. Annick kleidete sich sonst so unauffällig, daß sie kaum
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