Die toten Mädchen von Villette
bemerkt wurde, aber in der Sommerhitze fiel es ihr schwerer, ihre Vorzüge zu verbergen.
– Christelle, sagte Willy Bourgeois und sah Martine verwirrt an, ja, sie war achtzehn, blond, hübsch …
Er sah, daß die Kollegen um den Tisch von seiner Analyse nur mäßig beeindruckt waren, und strengte sich an, sich an etwas Nützlicheres zu erinnern.
– Sie hat als Serviererin gearbeitet, sagte er, in einem Restaurant am Quai des Marchands, das inzwischen geschlossen ist. Es steht in der Untersuchung, wie es hieß, wir haben uns im übrigen den Eigentümer angeschaut, er hat gern die Serviererinnen betatscht, aber wir konnten ihn vergessen. Ja, und Christelle hatte vor dem Abitur mit der Schule aufgehört, sie wollte nicht weiter büffeln, sie war nicht gerade eine Leuchte in der Schule. Sie warKindermodell für einen Versandhauskatalog gewesen, als sie zehn, elf war, und träumte davon, daß das zu etwas Größerem führen würde, sie hatte ihr Foto an eine Art Modellagentur geschickt.
Martine spürte das Adrenalin wie einen Energiestoß in den Körper ausströmen. Hier hatte sie einen Zusammenhang – ebenso wie Sabrina Deleuze hatte Christelle Rolland davon geträumt, ein Star zu werden, hatte sich nach Scheinwerferlicht und Ruhm gesehnt. Das konnte kein Zufall sein. Das muß er ausgenutzt haben, der Mann, der sie zu Champagner, Gänseleber und Erdbeeren am Fluß eingeladen und dann getötet hat.
Aber wer war er, und wie war es ihm gelungen, so lange unentdeckt zu bleiben? Wenn Alice Verhoeven recht hatte, hatte er vor mehr als zwölf Jahren angefangen zu morden. Die Zusammenarbeit zwischen Belgiens drei Polizeien war notorisch schlecht, ebenso die Kontakte zwischen verschiedenen Distrikten. Aber trotzdem, jemand hätte wohl auf eine lange Reihe ungelöster Mädchenmorde mit gemeinsamen Charakteristika reagieren müssen, auch wenn er jedesmal an einem anderen Ort in Belgien zugeschlagen hätte? Sie lebten trotz allem in einem kleinen Land. Aber es gab eine andere beunruhigende Möglichkeit.
– Kann er über die Grenzen operiert haben, sagte sie, wir bekommen ja ständig zu hören, daß wir in einem zunehmend grenzenloseren Europa leben?
– In dem sich nicht nur Waren und Dienstleistungen, sondern auch Verbrecher immer leichter über die Grenzen bewegen, stimmte Christian bei, das habe ich in einem Artikel über die neue Form der Zusammenarbeit der europäischen Polizei gelesen. Obwohl es dabei mehr um Drogen und Terrorismus ging. Aber ein Serienmörder, derjahrelang überall in ganz Europa zugeschlagen hat, warum nicht? Frankreich, Luxemburg, Holland, Deutschland – er müßte nicht sehr weit reisen.
Alice Verhoeven nickte nachdenklich.
– Das würde vieles erklären, sagte sie, denn je mehr ich an die Morde an Sabrina, Peggy und Nadia denke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß der, der sie begangen hat, viele Leben auf seinem Gewissen hat und lange damit durchgekommen ist, ohne entdeckt zu werden. Seine Art zu agieren ist so kalt, und er ist so große Risiken eingegangen, daß es auf jemanden hindeutet, der das schon lange macht und sich unverletzlich fühlt. Aber wie finden wir seine früheren Verbrechen?
– Wir müssen eine Anfrage an andere Polizeibezirke hier im Land verschicken, sagte Martine, aber auch an Polizeibehörden in anderen europäischen Ländern, ob sie ungelöste Mordfälle haben, die unseren beiden ähnlich sind, wir müssen die Bilder mitschicken.
Willy Bourgeois rülpste lautstark.
– Als ob das was nützen würde, sagte er, das landet nur ganz unten in einem Eingangskorb. Das einzige, was funktioniert, sind persönliche Kontakte.
Christian nickte zustimmend.
– Willy hat recht, sagte er, es erfordert persönlichen Kontakt, wenn bei internationalen Anfragen etwas herauskommen soll.
– Aha, sagte Martine, wie steht es bei den Herren mit internationalen Kontakten? Und bei Annick natürlich.
– Ich habe einen alten Kumpel, der arbeitet im Bundeskriminalamt, ein netter Kerl. Ich könnte hinfahren und ihn treffen, sagte Willy Bourgeois enthusiastisch. Der Gedanke an eine Dienstreise nach Bonn schien ihn ungewöhnlich zu beleben.
– Es gibt einen französischen Kollegen, den ich auf ein paar Kursen getroffen habe, sagte Christian, er ist jetzt angeblich bei der Brigade Criminelle in Paris. Mit dem kann ich Kontakt aufnehmen.
– Vergeßt mich nicht, sagte Alice Verhoeven und zog die Brauen hoch, ich habe recht gute Kontakte in Europa.
Martine fühlte sich dumm. Alice
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