Die toten Mädchen von Villette
da Briefpapier und Umschläge und ein Fach für Briefe. Und da fand er diesen Brief!
– Und was war das für ein Brief? fragte Philippe geduldig.
– Das weiß ich ja eben nicht, sagte Giovanni, aber es war ein Brief an seine Schwester, keiner, den sie selbst geschrieben hatte, das weiß ich, ich habe den Umschlag gesehen.
– Den Umschlag? Und wie sah der aus?
Philippe wartete gespannt auf die Antwort. Giovanni schloß die Augen.
– Hellblau, sagte er triumphierend, dünnes, lappiges Papier, gewöhnliches Format. Adressiert an »Mademoiselle Simone Janssens«, keine Adresse, keine Briefmarke, kein Poststempel, kein Absender, als hätte ihn jemand persönlich überbracht, nicht mit der Post.
– Sehr gut, sagte Philippe ermunternd.
– Ich habe nämlich ein fotografisches Gedächtnis, sagte Giovanni stolz.
– Und der Brief selbst?
– Hab ich nie in der Hand gehabt, deshalb weiß ich nicht, was drinstand. Aber Eric hat ihn ein paar Tage gedreht und gewendet, und dann eines Tages hatte er einen Geistesblitz und nahm ein paar alte Bücher vom Regal. Danach hat er gesagt, daß er unbedingt mit dir reden muß, und gefragt, ob ich weiß, wo du steckst.
– Was für Bücher? fragte Philippe.
– Ach, irgendein alter französischer Roman in unzähligen Bänden, sagte Giovanni und schloß wieder die Augen, in solchen hellen Deckeln, du weißt, mit rotem und schwarzem Text, warte, gleich kommt es, yes, »Die Thibaults« von Roger Martin du Gard!
Philippe riß vor Erstaunen den Mund auf. Was immer er erwartet hatte, das war es nicht. »Die Thibaults« in der Ausgabe von Gallimard – die Bücher hatten in seinem Elternhaus gestanden, und er hatte als Halbwüchsiger alle zehn Bände gelesen, war aber enttäuscht gewesen. Die vielversprechende Freundschaft zwischen zwei Schuljungen, leidenschaftlich und verboten, im ersten Teil hatte nie zu etwas geführt. Statt dessen hatte sich der junge Held in die Schwester seines Freundes verliebt, wie hieß sie noch gleich, Jenny? Fad, hatte er damals gefunden, aber als Schilderung französischer Bürgerlichkeit in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war der Roman vermutlich glänzend. Er erinnerte sich noch an die Abschnitte über den hitzeflimmernden Vorkriegssommer 1914. Aber was hatte das mit dem Brief an Simone Janssens zu tun?
– Komisch, oder, sagte Giovanni, und das ist alles, was ich weiß, es hat keinen Sinn, daß du weiter fragst.
– Hast du das ganze der Polizei erzählt? fragte Philippe.
– Klar hab ich, sagte Giovanni, aber vielleicht nicht so detailliert, die waren gar nicht besonders nett zu mir, deshalb hatte ich keine Lust, ihnen zu helfen.
Er spitzte beleidigt den Botticellimund.
– Meinst du, sie haben dich verdächtigt? sagte Philippe.
– Das hätten sie, wenn ich nicht tausend Kilometer von Brüssel entfernt zu Hause bei meinen Eltern gewesen wäre, als Eric ermordet wurde.
– In Florenz? sagte Philippe säuerlich.
– Nein, seufzte Giovanni, Landshut in Niederbayern, wenn du es unbedingt wissen willst.
– Weiß deine Familie, wie du in Brüssel lebst? fragte Philippe, plötzlich neugierig.
– Bist du verrückt, sagte Giovanni und riß die Augen auf,die würden mich verstoßen oder so und rauswerfen in den Schnee. Papa ist Oberst in der Bundeswehr, er findet es schlimm genug, daß ich Friseur gelernt habe. Du lädst wohl auf noch ein Glas von diesem Wein ein, der war wirklich gut?
Er zeigte auf die Weinkarte. Philippe schaute – Clos de la Coulée de Serrant von 1988, der teuerste Weißwein, den sie glasweise servierten.
– Klar, sagte er und holte die Flasche. Etwas, er wußte nicht, was, veranlaßte ihn, zu Giovanni mit den bronzefarbenen Locken und dem fotografischen Gedächtnis zu sagen:
– Paß auf dich auf, Hansi.
Die achtzehnjährige Christelle Rolland war an einem Samstagabend im April 1982 ermordet aufgefunden worden. Sie hatten den Fall nie gelöst, aber die Untersuchung war gründlich gewesen, und die Boxen mit Material über den Christelle-Mord füllten den größeren Teil des Tisches im Konferenzraum vor Martines Dienstzimmer.
Sie hatte eine gute Stunde damit zugebracht, den alten Untersuchungsbericht zu überfliegen. Während sie darauf wartete, daß er aus dem Archiv ausgegraben wurde, hatte sie beschlossen, das Material der belgischen Fernsehkanäle von der Place de la Cathédrale vom Ende der Prozession an bis zwei Stunden danach anzufordern. Ihr war, als sie die Morgensendungen im Fernsehen gesehen hatte,
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