Die toten Mädchen von Villette
sitzt hier wie eine Nonne in deiner kleinen Zelle. Wir wollten mal raus und in der Blinden Gerechtigkeit ein Bier trinken, machst du mit?
– Unbedingt, sagte Annick, könnt ihr ein paar Minuten warten, während ich hier die Papiere in Ordnung bringe.
Sie nahm den Umschlag mit den Tatortfotos von der Christelle-Untersuchung, um sie in die Box zu stecken. Sie waren verrutscht, und sie nahm die Bilder aus dem Umschlag, um den Stapel geradezurütteln.
Als sie die Fotos in der Hand hatte, konnte sie es nicht lassen, sie anzustarren. Die Bilder hatten etwas, das sie störte, etwas, das nicht damit zusammenhing, daß das blondeMädchen, das an den Baumstamm gelehnt dasaß, tot war, was sie störte, war eher die Art, wie der tote Körper arrangiert war.
Ich bin überempfindlich, dachte Annick und steckte die Bilder in den Umschlag zurück. Sie mußte wirklich aufhören, darüber nachzugrübeln.
Jean-Pierre Wastia hatte Bartstoppeln und dunkle Ringe unter den Augen. Er wirkte noch deprimierter als beim letzten Gespräch. Martine dachte an Julies Sorge – hatte sie Angst, ihr Cousin würde versuchen, sich das Leben zu nehmen? Es war das beste, dafür zu sorgen, daß der Wächter regelmäßig nach Jean-Pierre sah, solange er noch in der Zelle saß.
Das Gespräch mit Benoît Vercammen hatte Martine nicht dazu gebracht, ihre Auffassung zu ändern. Sie meinte noch immer, daß sie Jean-Pierre Wastia freilassen mußte. Aber Vercammen hatte wohl recht darin, daß sie versuchen mußte, erregte Gefühle und einen Sturm der öffentlichen Entrüstung um die Entscheidung zu vermeiden. Sie wußte nur nicht, wie das gehen sollte.
– Können Sie mir etwas erzählen, sagte Jean-Pierre und sah Martine bittend an, wie ist es im Fußball gelaufen? Ich habe die Bullen gefragt, aber da will es mir keiner sagen.
– Belgien ist weiter, sagte Martine, 1 : 0 gegen Holland, Philippe Albert hat das Tor geschossen.
Das wäre vielleicht eine effektive Verhörsmethode, dachte sie, Fußballergebnisse nur zu verraten, wenn der Verdächtige redet. Aber jetzt hatte sie diese Möglichkeit verschenkt. Mit dem Protokoll vom vorigen Verhör vor sich ging sie Jean-Pierres Bericht vom Mordabend erneut durch, während Agnes stenografierte. Und Jean-Pierre erzähltedieses Mal exakt dieselbe Geschichte, drückte sich nicht unklar aus, als Martine ihn mit Detailfragen bombardierte, und verhielt sich insgesamt eher wie eine Person, die versucht, sich an die Wahrheit zu erinnern, als jemand, der sich zu erinnern versucht, welche Lügen er vorher erzählt hat.
– Okay, sagte Martine nach einer Weile, jetzt möchte ich etwas mehr davon hören, worüber du mit Sabrina im La Cave du Cardinal geredet hast. Denk genau nach und versuche, dich an so viel wie möglich von dem, was sie gesagt hat, zu erinnern!
Jean-Pierre runzelte die Stirn.
– Das ist schwer, sagte er, es war verdammt laut da, und ich habe nicht so genau zugehört, sie hat die ganze Zeit gequasselt. Warten Sie, ja, sie hatte ja auf dem Salome-Wagen getanzt und hat ununterbrochen erzählt, was für einen Erfolg sie gehabt hatte und daß viele gefunden hätten, daß sie besser war als dieses Mädel von der Oper. Wollen Sie so was wissen?
Er sah Martine fragend an, und sie nickte ermunternd.
– Ja, und dann war sie nach der Prozession von einer Menge Journalisten interviewt worden, von RTBF und englischen und französischen Fernsehkanälen, und auch einem deutschen, glaube ich, ja, und außerdem von Zeitungen, französischen und englischen und amerikanischen und italienischen. Darunter war etwas gewesen, das zu etwas wirklich Großem führen würde, hat sie gesagt, genau, sie war sauer, weil ich nicht genügend beeindruckt wirkte, und sagte, in ein oder zwei Jahren wäre ich schon froh, wenn ich ein Autogramm von ihr kriegen könnte. Aber da habe ich nur gegrinst. Da wurde sie noch saurer und sagte, warte nur, schon am Sonntag könnte sie mir was erzählen, das mir die Sprache verschlagen würde, aber das war ein Geheimnis, siehatte versprochen, noch nichts zu verraten. Aha, habe ich gesagt, schön für dich. Es war mir wirklich egal.
– Und die anderen Mädchen, sagte Martine, Peggy und Nadia, waren sie bei diesem Gespräch dabei?
Jean-Pierre schüttelte den Kopf.
– Nein, es war zu laut, man konnte nur mit einer Person auf einmal reden. Peggy saß mit meinem Kumpel Michel Blanquet zusammen, und Nadia redete mit einem anderen Mädchen, sie schien nicht besonders viel Spaß zu haben, genau
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