Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
Vom Netzwerk:
Gefühlen, die er ihr nicht geben konnte. Er behandelte sie schlecht, das wußte er, und das schlechte Gewissen machte alles nur noch schlimmer. Oft blieb er noch im Justizpalast, wenn die Gerichtsverhandlungen und Beratungen des Tages beendet waren. Er hatte in dem gewaltigen Gebäude auf einem Korridor eine Etage höher einen kleinen Büroraum gefunden, der leer stand. Da konnte er in Ruhe mit einer Zeitung und einer Zigarette sitzen und über sein kompliziertes Leben nachgrübeln.
    Aber eines Tages war ein junger Forscher in das kleine Büro eingezogen. Timothy Debaeres hellbraune Lockenwaren zu der Zeit ein dichter Schopf gewesen, aber sonst war auch er sich ziemlich gleich geblieben, dachte Philippe. Er hatte nichts dagegen gehabt, unterbrochen zu werden, sondern Philippe hereingewinkt, als dieser zum ersten Mal hereinschaute. Ihre tägliche Plauderstunde war rasch zur Gewohnheit geworden – sie hatten über Politik, über Film, über Musik und nach und nach über ihre fast gleichaltrigen kleinen Töchter gesprochen. Es war ein angenehmer Umgang gewesen, anspruchslos und unkompliziert in seiner strikten Begrenzung auf den kleinen Raum im Justizpalast.
    – Doch, sagte Philippe, mir geht es gut. Aber Professor bin ich nicht geworden. Die Doktorarbeit muß gelungen gewesen sein?
    Tim Debaere wedelte abwehrend mit der Hand.
    – Ich bitte Sie, sagte er, wir sind ja nicht so viele, die sich mit diesem Gebiet beschäftigen. Aber daß Sie der Schwager von Thomas Héger sind! Netter Bursche und brillanter Forscher, obwohl ich nicht begreife, warum er sich mit mittelalterlicher Geschichte befaßt, Sie? Leute, die mit Hellebarden und Pumphosen herumlatschen und seit langem tot sind, wo doch Belgiens moderne Geschichte so spannend ist!
    Philippe lachte.
    – Ich weiß nicht, sagte er, ich meine, Thomas hätte irgendwann gesagt, daß ihn ein englischer Krimi, den er bei seinen Großeltern in Schweden gelesen hat, dazu gebracht hat, sich für das Mittelalter zu interessieren. Aber im Moment denke ich mehr daran, wie peinlich es ist, daß mir nie klar geworden ist, woran Sie geforscht haben, als Sie da im Justizpalast saßen.
    – Oh, sagte Tim Debaere, das lag an mir, ich hatte keine Lust, darüber zu reden. Unsere Gespräche waren eineangenehme Unterbrechung der Arbeit, Sie haben immer genau dann hereingeschaut, wenn ich mich festgefahren hatte und eigentlich nur noch all meine Papiere an die Wand schmeißen wollte. Aber woran ich geforscht habe, war die Kollaboration mit der deutschen Okkupationsmacht in Wallonien und Brüssel während des Krieges, und ich saß in dem kleinen Kabuff im Justizpalast, um Akten von den Prozessen gegen Kollaborateure nach dem Krieg zu studieren.
    Er beugte sich enthusiastisch über den Tisch.
    – Und wenn ich Thomas richtig verstanden habe, geht es Ihnen genau darum. Sie suchen nach Informationen über Ihre Mutter, nicht wahr? Und sie war in Ravensbrück, war das so? Für genau welche Informationen interessieren Sie sich?
    Durch das offene Fenster hörte man das Dröhnen einer Ramme drüben an der Baustelle auf der Rue Wiertz. Sie hämmerte wie ein Herz, hart und schnell, ein aufgeregtes Herz. Philippe spürte, daß seine Handflächen feucht waren. Die Vergangenheit seiner Mutter war ihm nicht ganz so gleichgültig, wie er Martine hatte glauben lassen.
    – Ich weiß nicht genau, sagte er mit einer Stimme, die angespannter klang, als er zugeben wollte, eigentlich hat meine Schwester, Thomas’ Frau, angefangen, die Sache zu untersuchen. Und ich glaube, am meisten interessiert sie zu erfahren, wer unsere Mutter und ihre Freundin, die gleichzeitig festgenommen wurde, angezeigt hat. Aber das ist wohl kaum möglich so viel später?
    – Sagen Sie das nicht, sagte Tim Debaere, es gibt viel in den Archiven, wenn man nur weiß, wo man suchen muß.
    Er sah in den Notizblock, den er vor sich hatte.
    – Ihre Mutter hieß Renée Collignon, habe ich hier aufgeschrieben. Und wie hieß das andere Mädchen?
    – Simone Janssens, murmelte Philippe.
    – Simone Janssens und Renée Collignon, wiederholte der Forscher nachdenklich. Simone Janssens und Renée Collignon, wissen Sie, wenn ich die Namen zusammen nenne, klingen sie irgendwie bekannt.
    Er trommelte mit dem Stift auf die Tischkante. Zusammen mit der Ramme klang es wie zwei klopfende Herzen.
    – Wo haben sie gewohnt, sagte er plötzlich, Ihre Mutter und Simone Janssens?
    – In Uccle, sagte Philippe, beide.
    – In Uccle, wiederholte Tim Debaere

Weitere Kostenlose Bücher