Die toten Mädchen von Villette
wie ich.
– Aha, sagte Martine, wenn wir dann jetzt zur Autofahrt übergehen. Worüber haben die Mädchen geredet, als du auf der Straße Richtung Givray gefahren bist? Versuch, dich zu erinnern, was sie gesagt haben, es kann wichtig sein, nicht zuletzt deinetwegen.
Jean-Pierre schüttelte hilflos den Kopf.
– Aber ich habe ja nicht zugehört, es hat mich nicht interessiert, ihr Gequatsche, ich habe nur versucht, meine eigenen Gedanken zum Schweigen zu bringen, sagte er.
Martine wartete, aber Jean-Pierre starrte nur leer vor sich hin.
– Versuch nachzudenken, sagte sie nach einer Weile, waren sie fröhlich, waren sie müde, haben sie sich vertragen, haben sie sich gestritten, haben sie darüber geredet, was sie erlebt hatten, haben sie darüber geredet, was sie tun würden, wenn sie nach Hause kommen?
Jean-Pierres dunkle Augen wurden plötzlich ein wenig lebendig.
– Doch, sagte er, an eines erinnere ich mich tatsächlich. Peggy sagte, sie glaubt, daß ihre Mutter Brote mit Krabbensalat gemacht hat, sie sehnte sich nach Krabbensalat, hat sie gesagt, aber sie wußte nicht, was sie zu den Broten trinkensollte, etwas Warmes wollte sie. Ich weiß nicht, warum ich das behalten habe, aber ich glaube, ich dachte plötzlich an Joël, Peggys und Nadias Vater. Ich war in seiner Schicht, als ich vor ein paar Jahren im Sommer bei Forvil gearbeitet habe, er war wirklich in Ordnung, und ich habe mich gefragt, ob sie jetzt Nachtschicht haben, weil er nicht gekommen ist, um die Mädchen abzuholen. Ach ja, Peggy dachte darüber nach, ob sie zu den Krabbenbroten heiße Schokolade wollte oder vielleicht Kaffee mit viel Milch. Da lachte Sabrina dieses nervtötende Lachen, das sie draufhat, und sagte, Peggy sollte nicht so kindisch sein. Was man in der Johannisnacht trinken soll, ist Champagner, hat sie gesagt, stell dir vor, wenn ich ein Glas Champagner herzaubern könnte, wär das nicht köstlich, hat sie gesagt.
KAPITEL 8
Montag, 27. Juni 1994
Villette & Brüssel
Sophie hatte richtig vermutet, Thomas kannte einen Historiker, der Spezialist für Belgien während des Zweiten Weltkriegs war. Philippe hatte nach dem Abendessen am Samstag mit seinem Schwager gesprochen, vorsichtshalber außer Hörweite von Martine, und Thomas hatte ihm sofort ein paar Namen genannt. Dann hatte er am Sonntagabend angerufen und gesagt, daß Professor Timothy Debaere, offenbar eine führende Autorität auf dem Gebiet, Philippe gern treffen würde, schon am Montagvormittag.
Professor Debaere arbeitete im Résidence Palace, nur zehn Minuten Fußweg von Philippes Abrißwohnung im Quartier Léopold, an das die Bagger mit jedem Tag näher herankrochen, entfernt. Es gelang ihm unter Lebensgefahr, die sechsspurige Flut aus abgasstinkenden Autos der Rue Belliard zu überqueren, dann ging er durch die Gassen schräg zur Chaussée d’Etterbeck hinunter. Der Verkehrslärm mischte sich mit dem Krach vom Bau des neuen EU-Parlaments zu einer Symphonie von Stadtgeräuschen mit einer Lautstärke, die vermutlich gesundheitsschädlich war.
Philippe wurde direkt zu einem Raum mit Aussicht auf die Chaussée d’Etterbeck und den Parc Léopold geschickt. Ein Mann in seinem Alter, schmächtig und mit einem Kranz hellbrauner Locken um einen zu früh kahl gewordenen Scheitel, stand von seinem Schreibtischstuhl auf und streckte die Hand aus.
– Tim Debaere, sagte er und lächelte Philippewillkommenheißend an. Ihre Blicke begegneten sich, und sie stutzten.
– Aber wir sind uns schon begegnet, sagten sie beinah gleichzeitig.
– Setzen Sie sich, sagte Tim Debaere, mein Gott, ist das lange her, wann war das, 1982, oder? Ja, Sie sind sich gleichgeblieben, aber mit mir ist einiges passiert, wie Sie sehen.
Er strich sich wehmütig über die Glatze.
– Meine Tochter, sie ist jetzt fünfzehn, findet, ich soll den Rest abrasieren. Das würde cool aussehen, sagt sie, aber ich weiß nicht recht. Und wie geht es Ihnen?
Eine Flut von Erinnerungen, zum größten Teil unangenehme, überspülten Philippe. 1982 war das Jahr, in dem er als Rechtsanwalt zugelassen worden war. Er war sechsundzwanzig gewesen, mit Frau, Einfamilienhaus und vierjähriger Tochter und dem dunklen Geheimnis um seine Sexualität als einer immer unerträglicheren Last, die er zu tragen hatte. Viele Male hatte er das Gefühl gehabt, es wäre das beste für alle, wenn er tot wäre. Die Arbeit war seine Zuflucht von zu Hause gewesen, von Bernadettes vorwurfsvollen Blicken und ihren Forderungen nach
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