Die toten Mädchen von Villette
Bedeutung für den Prozeß hatte, wenn ich mich recht erinnere …
Mit einem triumphierenden Ausruf zog er ein Dokument aus den Stapeln, überflog es eilig und reichte es zu Philippe hinüber.
Es war ein Brief, gerichtet an den Militärankläger in Brüssel und datiert im Januar 1946. Der Absender war Jules Durant, ein Schullehrer aus Braine d’Alleud, der Mitglied in einer Widerstandsgruppe gewesen und im März 1943 von den Deutschen festgenommen worden war. Über das Gestapohauptquartier in der Avenue Louise war er zu dem belgischen Konzentrationslager Breendonk zum Verhör gebracht worden. Der Zweck des Briefes schien in erster Linie zu sein, auf zwei belgische Lagerwächter hinzuweisen, die Gefangene mißhandelt hatten, manchmal zu Tode. Eines ihrer Opfer war ein gewisser Raymond Janssens gewesen, der im Juni 1943 nach einem Verhör gestorben war. Über ihn schrieb Jules Durant: »Als wir zusammen arbeiteten, erzählte er, daß er festgenommen worden war, weil seine Tochter als Mitglied einer Widerstandsgruppe entlarvt worden sei. Er erklärte bei mehreren Gelegenheiten, daß er überzeugt war, daß der, der seine Tochter Simone Janssens und deren Schulfreundin Renée Collignon angezeigt hatte, sein Nachbar Maurice de Wachter, ein berüchtigter Kollaborateur und Deutschenfreund, war.«
Philippe befeuchtete seine Lippen.
– War das so leicht, sagte er mit einer Stimme, die nicht ganz fest war.
– Etwas Glück muß man haben, sagte Tim Debaere fröhlich, aber es ist ja nicht nur Glück, es gibt wohl niemanden, der dieses Material so gut kennt wie ich. Wie Sie vielleichtsehen, ist dieser Brief eine Kopie eines Durchschlags. Die Angaben von Durant waren ein wichtiger Beweis im Prozeß gegen die belgischen Wächter, die dort erwähnt werden, aber weil auch de Wachter erwähnt ist, landete eine Kopie davon auch in der Voruntersuchung gegen ihn. Aber da spielte das keine Rolle, es gab keine anderen Angaben in diesem Punkt, und es gab sowieso ausreichend viele Anklagepunkte gegen de Wachter, mit ordentlichen Beweisen.
– Und was, fragte Philippe, wurde aus diesem Maurice de Wachter?
Tim Debaere begegnete seinem Blick mit unergründlicher Miene.
– Maurice de Wachter, sagte er, wurde Anfang April 1947 von einem Exekutionskommando hingerichtet. Wie Sie vielleicht wissen, gab es ein paar hundert belgische Kollaborateure, die nach dem Krieg hingerichtet wurden, und er war einer von ihnen.
– Ich weiß nicht, was ich sagen soll, sagte Philippe. Sie können vielleicht erzählen, was Sie von ihm wissen, ich wäre dankbar dafür.
– Mit Vergnügen, sagte Debaere und lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf gefaltet. Sagen Sie aber Bescheid, wenn ich zu langatmig werde!
Ein kleines fanatisches Licht hatte sich in seinen sanften, hellbrauen Augen entzündet und ließ ihn wie einen entfernten Verwandten von Tims Professor Bienlein aussehen.
– Maurice de Wachter, sagte er, wurde 1906 in Tournai geboren, als Sohn eines Textilfabrikanten, ich glaube, er stellte Trikot her. Der junge Maurice interessierte sich schon als Halbwüchsiger für die Ideen der katholischen Ultrarechten, Sie wissen, Charles Maurras und dessen Action Française, und als er dann an der Universität in Louvain zustudieren anfing, wurde er aktiv in der katholischen Studentenpolitik, die damals sehr en vogue war. In Belgien wie in vielen anderen Ländern Europas gab es in diesen Jahren eine starke Affinität zu autoritären politischen Ideen, eine sehr frustrierte Mittelklasse, die fand, daß es nach dem allgemeinen Wahlrecht 1919 nur Unordnung gegeben habe. Und mit der Dreißiger-Jahre-Krise bekamen sie Wasser auf ihre Mühle. Es entstanden Protestbewegungen, besonders in der jüngeren katholischen Mittelklasse, die anti-demokratisch, anti-liberal, anti-sozialistisch waren und die herrschende Elite, die sie ihrer Meinung nach im Stich gelassen hatte, verachteten. Und zu diesen Kreisen gehörte also der junge Maurice de Wachter. Und in Louvain lernte er Léon Degrelle kennen …
Tim Debaere hielt inne.
– Sie kennen wohl Degrelle?
Philippe erinnerte sich an etwas, das er vor nicht langer Zeit in der Zeitung gelesen hatte, und an ein Foto von einem ziemlich runden, selbstzufriedenen Gesicht über einer ordenbehängten Uniform.
– Er ist im Frühjahr gestorben, sagte er, er war während des Krieges wallonischer Faschistenführer …
Debaere nickte eifrig.
– Genau, sagte er, er ist vor ein paar Monaten in Spanien gestorben, 87
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