Die toten Mädchen von Villette
Schreibtisch. Er duftete schwach nach einem teuren Eau de Cologne.
– Soo, Martine, Sie haben ein kleines Problem, sagte er und forderte sie mit einer Geste auf, sich auf dem unbequemen Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, vorgesehen nur für Besucher, die eine Plauderstunde in der bequemen Sitzgruppe nicht verdienten, niederzulassen.
Sie sagte nichts. Früher oder später würde er wohl damit herausrücken, was er wollte.
– Wir haben nämlich einen Antrag erhalten, daß Sie vonder Untersuchung des Dreifachmordes abgezogen werden, sagte er und reichte ihr einen Brief hinüber.
Martine spürte, wie ihre Eingeweide sich verkrampften. Der Magen fiel herunter und landete irgendwo in der Nähe der Knie. Eine Haarnadel löste sich im Nacken und fiel lautlos auf den dicken Teppich, als versuchten die Haare, aus der Frisur auszubrechen, um vor Bestürzung zu Berge zu stehen.
Sie las schnell den Brief durch. Er war von Joseph Deleuze und Odette Pascal, verheiratete Deleuze, unterzeichnet, vermutlich die Eltern der ermordeten Sabrina. Der Inhalt war einfach – die Forderung, daß Martine aufgrund mangelnder Unvoreingenommenheit die Verantwortung für die Voruntersuchung der Morde an Sabrina Deleuze, Peggy Bertrand und Nadia Bertrand entzogen werden sollte.
Die Begründung war, daß sie durch ihre Freundschaft mit einer Angehörigen des verdächtigten Jean-Pierre Wastia befangen sei. Als Beispiel wurde erwähnt, daß sie sich am Tag nach Wastias Festnahme von Julie Wastia zum Frühstück habe einladen lassen.
– Das ist doch lächerlich! sagte Martine böse.
– Aha, finden Sie, sagte Yves Deshayes, meinen Sie, daß Sie gestern nicht mit Julie Wastia gefrühstückt haben?
– Ich habe gestern mit Julie vor der Arbeit auf der Place de la Cathédrale eine Tasse Kaffee getrunken, gab Martine zu.
– Und Schokoladenbrioches gegessen, sagte Deshayes, ganze vier Schokoladenbrioches, sehe ich, sie haben die Quittung mitgeschickt.
Martine erinnerte sich an die Serviererin, die sie und Julie forschend angesehen hatte.
– Wollen Sie sagen, daß Sie persönlich an meiner Unvoreingenommenheit zweifeln, Herr Präsident? forderte sie ihn heraus.
Er stellte den Brieföffner in Habachtstellung wie ein bloßes, hauendes Schwert auf die Schreibtischunterlage und betrachtete Martine über dessen scharfe Spitze.
– Nein, keineswegs, sagte er. Aber was ich finde, ist nicht so wesentlich. Das Wesentliche ist, daß wir über einem solchen Verdacht stehen müssen. Die Unvoreingenommenheit des Untersuchungsrichters ist ja der Garant für die Integrität der Voruntersuchung. Caesars Gattin, Sie wissen.
– Jaja, sagte Martine, aber das Problem ist bald aus der Welt. Ich habe nämlich vor, Jean-Pierre Wastia heute freizulassen. Ich sehe ihn nicht mehr als Verdächtigen für die Morde. Und dann kann ich mit Julie Wastia soviel Kaffee trinken, wie ich will, dann ist sie absolut nicht mehr als parteiisch zu betrachten.
Deshayes stützte das Kinn auf die Hand und sah sie über die dünne Fassung seiner Brille an.
– Aha, Sie haben vor, ihn freizulassen. Ja, das habe ich ja heute morgen in der Zeitung gesehen. Womit begründen Sie das, falls Sie nichts dagegen haben, es mir zu erzählen?
Martine ignorierte den Sarkasmus und berichtete über die Situation der Untersuchung und ihre Motive dafür, den Haftbefehl aufzuheben.
– Tja, es ist Ihre Entscheidung, sagte Deshayes, aber ich rate Ihnen, darüber noch einmal nachzudenken. Wenn Sie mich fragen, meine ich, daß die Gründe für die Haft immer noch gelten. Und die Stimmung in der Stadt ist ziemlich erregt. Sie müssen wirklich nicht in jeder Lage die Heldin der Gerechtigkeit spielen.
Er lächelte säuerlich.
– Und was passiert mit dem hier? fragte Martine und zeigte auf den Brief.
– Ja, wir müssen ja irgendwie damit umgehen, sagte er, aber wie Sie wissen, kann nur der Oberste Gerichtshof einen Untersuchungsrichter von einer Voruntersuchung abziehen. Sie müssen sich wohl beeilen, den Fall zu lösen, dann kommt es vielleicht gar nicht mehr dazu.
Er stand auf. Die Audienz war zu Ende.
Martines Herz klopfte heftig, als sie durch die Korridore eilte, die durch den alten Bischofspalast zurück zum Annex führten. Sie fragte sich, wer eigentlich hinter der Anzeige steckte – Sabrinas trauernde Eltern waren kaum selbst darauf gekommen. Sie erinnerte sich an die neugierigen Blicke der Serviererin im Café de la Cathédrale.
Gott, was wurde in Villette getratscht!
Deshayes’
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