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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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Sonne brannte, die Luft stand still, und es stank aus den schwarzen Müllsäcken, die die Trottoirs säumten. Ihr Nacken und ihre Kiefer waren angespannt, und im Hinterkopf hörte sie wieder und wieder Jennifer Collards Stimme, wie eine Schallplatte, die hängengeblieben ist: »Sie war naiv und traute allen nur Gutes zu … sie war naiv und traute allen nur Gutes zu … sie war naiv …«
    Annicks Wohnung lag ganz oben in einem Jahrhundertwendehaus drei Blocks hinter der Grande Place. Ihre beiden Brüder hatten ihr geholfen, in der Küche einen modernenHerd und eine Spülmaschine zu installieren, als sie vor bald einem Jahr eingezogen war, und sie selbst hatte die Küche und die beiden Zimmer in hellen Farben angestrichen – Vanillegelb, Cremeweiß, Nougatbeige. Alles war sauber und gepflegt. Die Bücher in dem wohlgefüllten Bücherregal standen in alphabetischer Reihenfolge, ihre geerbten Kristallgläser in ordentlicher Formation im Vitrinenschrank, und ihre Judopokale glänzend und wohlgeputzt auf ihrem eigenen Regal zwischen den hohen Fenstern zur Terrasse.
    Als Annick in die Wohnung kam, ließ sie die Tasche auf den Boden in der Diele fallen, stürzte ins Wohnzimmer und warf sich in Fötushaltung auf das elfenbeinfarbene Ecksofa, ohne sich auch nur die Schuhe abzustreifen. Sie kniff fest die Augen zu und hielt sich die Hände vor die Ohren, aber die Bilder und Geräusche kamen trotzdem, so wie sie es erwartete. Sie sah wieder das Blut und das zerschlagene blutige Glas und Maries tastende, schlaffe Bewegungen und ihren verständnislos bittenden Blick, bevor sie das Bewußtsein verlor.
    Mit reiner Willensanstrengung setzte sie sich wieder auf, mit reiner Willensanstrengung zwang sie die Muskeln, zu funktionieren und sie zum Schreibtisch und zum Telefon zu tragen.
    Sie konnte die Nummer auswendig und atmete erleichtert auf, als sich die wohlbekannte Stimme meldete.
    – Hier ist Annick, sagte sie, Annick Dardenne, ich habe wieder Flashbacks, du hast gesagt, ich sollte anrufen, falls es passiert.
    – Natürlich, Annick, sagte die Therapeutin, mit der sie seit drei Jahren keinen Kontakt gehabt hatte, passiert das jetzt zum ersten Mal, seit wir uns zuletzt gesehen haben?
    – Ja, sagte Annick.
    – Hast du eine Ahnung, warum es passiert? fragte die Therapeutin.
    – Ja, sagte Annick, es ist ein Fall, an dem ich arbeite, junge Mädchen, die ermordet worden sind, junge Mädchen, die davon geträumt haben, berühmt zu werden. Ich habe vorhin mit einer Zeugin geredet, die eine Freundin hatte, die vor zwölf Jahren ermordet worden ist, eine Freundin, die davon träumte, Fotomodell zu werden. Ich weiß, du hast gesagt, daß ich in solche Situationen geraten kann, wenn ich zur Kriminalpolizei gehe, aber ich wollte es so gern, es war wichtig für mich.
    – Setz dich hin und atme ruhig, sagte die Therapeutin, dies ist ein vorübergehender Rückfall, du wirst es schaffen. Gibt es noch mehr als äußere Ähnlichkeiten, das dir zu schaffen macht?
    Annick sank auf den Schreibtischstuhl und tat einen langen Atemzug, eine Mischung aus Seufzen und Schluchzen.
    – Da ist etwas, das ich nicht zu sehen wage, sagte sie, etwas, das zu nahe kommt, und wenn ich wage, weiß ich, daß ich meinen Kollegen alles erzählen muß, und das will ich nicht.
    – Dann ist es das, was wir in den Brennpunkt rücken müssen, sagte die Therapeutin ruhig, ich habe eine Viertelstunde Zeit. Kannst du erzählen, was es ist, das du nicht zu sehen wagst?
    Annick erzählte. Eine Viertelstunde später legte sie mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung den Hörer auf.

    Das Klappern hoher Absätze auf dem Korridor warnte Martine und veranlaßte sie, schnell einen Spiegel aus der Handtasche zu ziehen. Sie konnte gerade noch den Lippenstift ausbessern und die Haare zurechtzupfen, bevor BrigitteOnckelinx in ihr Dienstzimmer fegte und arrogant ihre weinrote Attachétasche auf den Schreibtisch knallte.
    – Und wann hattest du vor, meinen Klienten freizulassen, sagte sie und fixierte Martine. Es gibt ja nicht den geringsten Grund, ihn noch hier zu behalten, soweit ich sehen kann. Ihr seid so weit davon entfernt, einen Grund für eine Anklage zu haben, daß man darüber lachen könnte, hätte mein junger Klient nicht drei Nächte in einer Zelle gesessen.
    Sie beugte sich über den Schreibtisch, und der schwarze Anwaltstalar, fleckenlos und frisch gebügelt mit blendend weißer Krause, flatterte in der Brise von dem offenen Fenster hinter ihr wie Rabenflügel.

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