Die toten Mädchen von Villette
Jahre alt, ohne dafür bezahlt zu haben, was er im Krieg getan hat, und ohne etwas zu bereuen. Aber als ihn Maurice de Wachter Ende der zwanziger Jahre in Louvain kennenlernte, war er ein enorm charismatischer katholischer Studentenpolitiker, sie waren auf derselben Wellenlänge und haben sich sehr gut verstanden, und eine Weile arbeiteten sie beide für die katholische Tageszeitung Vingtième Siècle. 1930 übernahm Degrelle einen kleinenkatholischen Verlag, Christus Rex, und dahin warb er Maurice de Wachter, der ein recht begabter Schreiber war, ab. Aber die Gruppe um Christus Rex wurde nach und nach zu radikal für die Kirche, die mit ihnen brach. Da starteten sie statt dessen eine politische Bewegung, die Rex-Bewegung, die bei der Wahl 1936 erfolgreich war und 11 Prozent der Stimmen bekam. Aber es ging auf wie eine Sonne und unter wie ein Pfannkuchen, ein paar Jahre später war Rex schon eine Randgruppe, die dem faschistischen rechten Rand immer näherrutschte. Na ja, unser Freund de Wachter war 1936 mit in der Rex-Gruppe, entwickelte sich aber nach und nach von ihr weg. Aber er hatte weiter Umgang mit Degrelle und schrieb einiges in rexistischen Publikationen, während er gleichzeitig eine geschäftliche Tätigkeit ausübte, mit recht großem Erfolg. Ach ja, und etwas Spezielles an de Wachter war, daß er äußerst prodeutsch war, seine Großmutter väterlicherseits war Deutsche, aus Trier. Er hatte Deutschland besucht und sprach die Sprache und schwärmte für deutsche Kultur und hatte die Vision, daß die Wallonen eigentlich ein germanisches Volk waren. Nun, im Mai 1940 wurde ja Belgien von Deutschland besetzt, und de Wachter pflegte schnell Kontakte mit der neuen deutschen Militärverwaltung. Zunächst war das nicht so kontrovers, während des Sommers und des frühen Herbstes schien Deutschland unüberwindlich, viele waren enttäuscht von der belgischen Regierung, die sich nach Frankreich abgesetzt hatte, und recht viele respektable Personen hofften auf eine Art autoritäres Königtum im Einverständnis mit den Deutschen. Aber das ging ziemlich schnell vorbei. Jedenfalls hatte die deutsche Militärverwaltung eine äußerst wohlwollende Einstellung zu den flämischen Nationalisten, man sah sie als germanische Brüder und sorgte dafür, daß sie in derbelgischen Regierung auf Schlüsselpositionen landeten. Degrelles Gruppe ernst zu nehmen fiel den Deutschen dagegen schwer, aber die Rexisten kämpften verzweifelt dafür, ihre Leute auf wichtige Posten zu bringen, und weil die Deutschen nichts anderes hatten, worauf sie sich in Wallonien stützen konnten, gelang ihnen das trotz allem ganz gut, besonders in den Provinzen und den Städten draußen im Land. Und so wurde im Innenministerium ein wallonisches Kabinett gebildet, und Ende 1942 bekam dort Maurice de Wachter einen klasse Job. Er lebte gut und auf großem Fuß, er hatte eine schicke Villa in Uccle, ging auf Empfänge und Essen in der deutschen Botschaft und gab große Einladungen für deutsche hohe Tiere und deren belgische Freunde. Nicht zuletzt hatte er Freunde in der Gestapo, viele haben nach dem Krieg bezeugt, daß sie ihn im Gestapohauptquartier an der Avenue Louise gesehen haben. Aber der Krieg verlief ja immer schlechter für Deutschland, und die Widerstandsbewegung wurde immer kühner. Im Mai 1944 wurde de Wachters Auto im Bois de la Cambre beschossen, er wurde verletzt, überlebte es aber zusammen mit seinem Sohn, der mit im Auto war. Er forderte natürlich Repressalien, und das führte dazu, daß vier Personen als des Attentats verdächtig festgenommen wurden. Sie wurden so schwer mißhandelt, daß zwei von ihnen starben. De Wachter war beim Verhör anwesend und feuerte die Täter an. Vor allem wegen dieser Geschichte wurde er hingerichtet.
– Oh, sagte Philippe. Anscheinend gab es nicht viel anderes zu sagen.
– Wollen Sie ein Bild von de Wachter sehen? sagte Tim Debaere eifrig. Er wartete nicht auf die Antwort, sondern kramte einen Zeitungsausschnitt aus einer Mappe und schob ihn über den Tisch.
Der Druck war unscharf, aber das Bild völlig klar. Philippe sah einen großen und ziemlich schmalen Mann mit nach hinten gestrichenen dunklen Haaren und arrogantem Gesichtsausdruck, gekleidet in einen langen Mantel mit einem weißen Halstuch um den Hals. Er hielt eine Zigarette in einer Hand und schien mit der anderen zu gestikulieren. Neben ihm stand ein lächelnder Mann in SS-Uniform.
– Sie erkennen wohl den Burschen in der Uniform, sagte
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