Die toten Mädchen von Villette
spöttische Stimme hallte in ihren Ohren wider: »Sie müssen wirklich nicht in jeder Lage die Heldin der Gerechtigkeit spielen.« Eine Erinnerung tauchte ungebeten in ihrem Kopf auf, die letzte Konfrontation mit Renée, als sie nach Liège aufbrechen wollte, um ihr neues Leben anzufangen. Das war 1979. Sie erinnerte sich an ihre schwarze Lederjacke und ihre weiße Rüschenbluse, sie erinnerte sich an Renées marineblaues Hemdblusenkleid und ihre leidende Stimme, die sagte: »Warum mußt du ständig alles so schwierig machen, warum reicht nicht eine Familie und Kinder und ein ruhiges Leben?« Sie hatte eine konventionelle Hausfrau gesehen, die das Leben ihrer Tochter ebenso beschränkt machen wollte, wie ihr eigenes gewesen war, und sie hatte revoltiert. Jetzt wußte sie, daß Renée als Mädchen für eine bedeutend kühnere Revolte teuer hatte bezahlen müssen. Vielleicht hatte sie ihre Tochter nur schützen wollen. Aber alles, was sie ihr gegeben hatte, war einängstlicher Schmerz im Magen, wenn ihr Gewissen etwas anderes sagte als Chefs und andere Autoritätspersonen. Philippe, der perfekte Sohn, hatte seine Schwester an diesem Tag zum Bahnhof gefahren. Sie erinnerte sich, daß er noch schlechter gefahren war als gewöhnlich und »Laß von dir hören, Titine« mit einem Tonfall gemurmelt hatte, den sie nicht hatte deuten können. Erst viele Jahre später hatte sie begriffen, wie eingesperrt er sich gefühlt haben mußte. Alle in ihrer Familie hatten nur den Schein gewahrt. Alle hatten ihre innersten Geheimnisse voreinander verborgen, und jetzt, nachdem sie die Wahrheit wußte, würde sie sich mit Renée nie aussprechen können.
Aber Yves Deshayes hatte recht. Jetzt war es ganz einfach notwendig, den Fall schnell zu lösen, dachte sie mit einem Gefühl nahe der Verzweiflung. Ein paar Tage, höchstens, hatte sie noch vor sich, bis das Arbeiten schwierig werden würde. Eine Entscheidung war eigentlich nicht nötig, schlimmstenfalls könnte die Frage nach ihrer Unvoreingenommenheit in der Presse auftauchen, dann wäre sie gezwungen, die Untersuchung zu verlassen.
Jennifer Collard, Freundin der toten Christelle, schien eine junge Frau zu sein, die wußte, was sie wollte. Während sie in einer Espressomaschine, die aussah, als könne sie bei Bedarf als Abschußrampe für Weltraumraketen fungieren, Kaffee kochte, erzählte sie Annick, daß sie Oberkellnerin im Restaurant Duc de Bourgogne war und irgendwann zusammen mit ihrem Verlobten, der Koch war, ein eigenes Restaurant eröffnen wollte.
– Wir haben beide eine Hotel-und Restaurantausbildung in Lausanne absolviert, sagte sie und stellte zwei Tassen duftenden Espresso mit perfektem, cremigem Schaum auf den Couchtisch.
– Aber es braucht Kapital, etwas Eigenes zu eröffnen, und bei dieser Konjunktur will man sich ja nicht mit großen Schulden belasten, deshalb warten wir noch ein paar Jahre ab. Aber die Espressomaschine haben wir uns angeschafft, ist die nicht phantastisch?
Sie sank neben Annick auf das Sofa, zog die langen Beine unter sich hoch und betrachtete Annick mit intelligenten dunklen Augen.
– Na, sagte sie, was glauben Sie, womit ich Ihnen helfen kann? Ich habe ja alles, was ich wußte, schon 1982 der Polizei erzählt.
– Ja, sagte Annick, aber wie Sie vielleicht heute in der Zeitung gesehen haben, sehen wir gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Mord an Christelle Rolland und dem Dreifachmord letzten Freitag, und das gibt uns neue Anhaltspunkte und die Möglichkeit, Angaben von damals in einem neuen Licht zu sehen. Vor zwölf Jahren haben Sie den Ermittlern erzählt, daß Christelle angedeutet hat, daß sie etwas Großes am Laufen habe, etwas, wovon sie am Sonntag mehr erzählen würde. Das ist es, was mich interessiert, alles, woran Sie sich erinnern können, was sie dazu gesagt hat.
Jennifer Collard nippte an ihrem Espresso und runzelte die Stirn. Sie stellte die Tasse ab und schloß die Augen, wie um sich zu konzentrieren. Annick wartete still.
– Ich glaube, ich muß zuerst ein bißchen von Christelle erzählen, sagte Jennifer Collard. Wir haben einander gekannt, seit wir ganz klein waren, und waren immer Freundinnen, aber wir waren äußerst verschieden und hätten uns vermutlich mit der Zeit voneinander entfernt. Christelle war ein ganz goldiges Mädchen, großzügig und aufmerksam, sie traute allen nur Gutes zu und war ziemlich naiv.
Jennifer Collard verstummte, zog ihren langen braunen Zopf nach vorn über die Schulter und drehte ihn um
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