Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
Vom Netzwerk:
die Finger, während sie geradeaus in die Luft sah, als suchte sie nach Worten.
    – Sie war keine Leuchte in der Schule, habe ich den Eindruck, sagte Annick vorsichtig.
    Jennifer Collard schenkte ihr einen dankbaren Blick.
    – So kann man es ausdrücken, sagte sie, ja, ich bin ja bis zum Schluß aufs Gymnasium gegangen und habe Abitur gemacht, aber Christelle ist von der Schule abgegangen, einerseits, weil sie die Schule satt hatte, und andererseits, weil sie sich einbildete, sie könnte Karriere als Modell machen. Sie haben wohl Bilder von ihr gesehen? Sie war ja sehr, sehr hübsch, und als Kind war sie Modell in mehreren Versandhauskatalogen gewesen. Aber ich dachte schon damals, daß sie der falsche Typ war, sie war klein und kurvenreich und hatte ein hübsches und sehr persönliches Gesicht, aber um als Modell Erfolg zu haben, muß man groß und schlank sein und ein Gesicht haben, das eher wie eine leere Leinwand ist, ja, wie Sie zum Beispiel, Inspektor Dardenne.
    Sie betrachtete forschend Annicks regelmäßige Züge in dem ungeschminkten Gesicht unter dem Helm nichtssagender kurzgeschnittener brauner Haare. Eine durchlässige Frau. Annicks Herz machte einen Satz.
    – Aber am Mordtag ist etwas passiert, das Christelles Hoffnungen weckte? sagte sie.
    – Genau, sagte Jennifer Collard. Sie ließ den Zopf los, zog die Füße auf das Sofa und ließ das Kinn auf den Knien ruhen.
    – Stellen Sie sich vor, ich erinnere mich beinah daran, als wäre es gestern gewesen. Wir haben beide auf einem Empfang im Rathaus serviert, ich habe zusätzliche Jobs alsServiererin angenommen, um die Branche zu lernen, und als er vorbei war, saßen wir zusammen und aßen Reste. Es war im April, ein ziemlich warmer Tag, und wir nahmen beide unseren Teller mit Schnittchen und Kanapees und Petit choux und setzten uns auf eine Bank im Innenhof des Rathauses. Und Christelle war völlig high und aufgedreht und redete davon, daß sie endlich ihre Chance bekommen würde. Ich habe das nicht so sehr ernst genommen, aber trotzdem versucht, sie ein bißchen auszufragen, ich fühlte mich etwas verantwortlich für sie. Einmal war da zum Beispiel ein Typ, der bot ihr einen Job in einer Stripkneipe an, und sie hat nicht kapiert, worum es ging, und war völlig enthusiastisch, bis ich rauskriegte, was das eigentlich war. Aber dieses Mal wollte sie nichts erzählen, sie versprach nur, daß ich am Sonntag alles erfahren würde.
    – Und wann, glauben Sie, ist diese »Chance« aufgetaucht? fragte Annick.
    – Ja, sagte Jennifer Collard, im nachhinein habe ich ja gedacht, daß es während des Empfangs passiert sein muß, denn erst danach fing sie an, davon zu reden.
    – Haben Sie gesehen, ob sie mit jemandem speziell geredet hat?
    – Mit mehreren, sagte Jennifer Collard, es war keine steife Veranstaltung, wir trugen natürlich Tabletts mit Drinks herum, aber es gab auch Tische mit regionalen Spezialitäten, wo wir abwechselnd standen und wo die Leute stehenbleiben und reden sollten. Da waren, wer war noch mal da, der Bürgermeister und andere Gemeindebonzen, Leute aus verschiedenen Unternehmen, ein paar hohe Tiere aus Brüssel, glaube ich, und ziemlich viele Journalisten. Ich erinnere mich, daß Christelle sagte, daß sie mit einem italienischen Journalisten geredet hat, ihre Mutter war Italienerin, und sie zeigte gern, daß sie die Sprache konnte.
    Annick beugte sich eifrig vor.
    – Dieser italienische Journalist, kann er es gewesen sein, der vorgab, ihr Schlüssel zu Ehre und Ruhm zu sein? fragte sie gespannt.
    Jennifer Collard sah unsicher aus.
    – Ich weiß nicht, sagte sie zögernd, sie hat nichts davon gesagt, daß sie ihn treffen würde oder so.
    – Aber wenn er es nicht war, haben Sie jemand anders gesehen, mit dem sie lange geredet hat? fragte Annick.
    – Nein, leider nicht, sagte Jennifer Collard, und an den italienischen Journalisten erinnere ich mich vor allem, weil sie mir von ihm erzählt hat. Aber eines, woran ich mich erinnere, ist, daß sie sehr darauf bedacht war, ihr Make-up auszubessern, bevor sie aus dem Rathaus wegging, und sie bat mich, ihr zu helfen, ihre Haare herzurichten. Sie wolle etwas, das raffinierter ist als ihre gewöhnliche Frisur, hat sie gesagt.
    Annick sah auf die Uhr, als sie von Jennifer Collards Wohnung wegging. Beinah Mittagszeit. Sie konnte nach Hause gehen und in Ruhe und allein in ihrer eigenen Wohnung essen. Sie eilte durch die schmalen Nebenstraßen heimwärts, so schnell sie konnte, ohne zu laufen. Die

Weitere Kostenlose Bücher