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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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froh sein, daß es in diese Karre keinen Einblick gibt.
    Er nahm ein vergoldetes Feuerzeug aus der Sakkotasche und zündete sich eine Zigarette an.
    – Aber du hattest recht mit deiner Chefin, sagte er und blies nachdenklich einen Rauchring aus, es wäre dumm gewesen, ihr eine kleine Warnung zukommen zu lassen, wie ich es eigentlich vorhatte. Feine Frau ist das, ich dachte, wir sollten was tun, um unsere Hochachtung zu zeigen. Ich habe ein schnuckeliges kleines Cabriolet, das ich gerade reingekriegt habe, ein richtiges Auto für Mädels, glaubst du, das würde ihr gefallen?
    Julie biß die Zähne zusammen, daß ihr die Kiefer weh taten. Sie hatte ihr halbes Leben dem Versuch gewidmet, sich von ihrer schwierigen Familie und deren schlechtem Ruf zu befreien, aber jedesmal, wenn die Familienloyalität rief, wurde sie in diesen Kreis zweifelhafter Geschäfte und noch zweifelhafterer Weise, die Welt zu betrachten, zurückgerufen.
    – Bruno, sagte sie langsam und deutlich, wie oft muß ich dir noch sagen, daß Gerechtigkeit nicht zu kaufen ist? Martine Poirot läßt Jean-Pierre frei, weil sie meint, daß dieUntersuchung schon gezeigt hat, daß er unschuldig ist, nicht weil sie und ich befreundet sind oder weil sie auf Schmiergelder von dir hofft.
    Ihr Onkel sah sie mit einer Miene zynisch amüsierter Nachsicht gemischt mit einem Anflug von Verachtung an. Seine Augen glänzten hart und schwarz wie Onyx. Julie erinnerte sich plötzlich, daß sie als Kind ein wenig Angst vor ihm gehabt hatte.
    – Kleines, sagte er, manchmal frage ich mich, ob du blind bist oder ob du dich nur entschlossen hast, die Augen zuzumachen. Was glaubst du eigentlich, in was für einer Welt wir leben? Ich kenne viele, sowohl im Justizpalast als auch bei der kommunalen Polizei, die nichts gegen ein kleines Neujahrspräsent oder einen günstigen Preis für ein Auto oder ab und zu einen kleinen Gefallen haben. Eine Hand wäscht die andere, Kontakte. Du wirst Probleme kriegen mit all diesem Idealismus und deine Chefin früher oder später auch. Außerdem hatte ich nicht vor, ihr dieses Auto zu schenken, ich wollte ihr nur einen verdammt günstigen Preis machen, wenn sie interessiert ist.
    Bevor Julie antworten konnte, ging die graugestrichene Tür an der Schmalseite des Annexes auf, und Jean-Pierre kam heraus. Agnes Champenois hatte versprochen, dafür zu sorgen, daß er durch die unauffällige Seitentür, die zu den Feuertreppen führte, hinausgelassen wurde statt durch den Haupteingang, und sie hatte Wort gehalten.
    Julie sah ihren Cousin unruhig an. Es gab niemanden auf der ganzen Welt, der ihr mehr bedeutete als Jean-Pierre, mit dem zusammen sie aufgewachsen war. Sie war beinah froh gewesen, als sich Jean-Pierre als Neunzehnjähriger hatte anwerben lassen, weil sie gedacht hatte, es würde ihn davor schützen, in die Geschäfte der Familie hineingezogenzu werden, und ihn gleichzeitig lehren, sein heftiges Temperament zu zügeln. Und Jean-Pierre brauchte einen Job, bei dem er draußen sein und sich bewegen konnte. Als sie Kinder waren, hatte er nie stillsitzen können, er mußte immer rennen, hüpfen und klettern. Oder sich prügeln. Das Militärleben schien perfekt für ihn.
    Aber sie hatte nicht mit Ruanda gerechnet, dem blutigen Schlachthaus, das Jean-Pierre hatte verlassen müssen, ohne daß er einen Finger hatte rühren dürfen, um denen zu helfen, die zu beschützen er geschickt worden war. Jean-Pierre hatte nicht viel gesagt, seit er nach Hause gekommen war, aber Julie wußte, daß ihn Alpträume und Erinnerungen quälten, wenn er schlief, und auch, wenn er wach war.
    Und auch jetzt sah Jean-Pierre aus wie ein junger Mann, auf dem Kummer schwer lastete. Er sah sich unsicher um und trat apathisch auf ein Grasbüschel, während die graue Tür langsam hinter ihm zuglitt. Mit seiner zusammengesunkenen Haltung sah er aus, als seien seine breiten Schultern unter dem schwarzen T-Shirt geschrumpft.
    Julie öffnete vorsichtig die Tür und steckte den Kopf hinaus.
    – Jean-Pierre, sagte sie leise, wir sind hier, ich und Bruno!
    Jean-Pierre richtete sich hastig auf und reckte den Hals, als er den Namen seines Vaters hörte. Er öffnete die rechte Fondtür, glitt auf den Rücksitz und zog schnell die Tür hinter sich zu.
    Julie nahm seine beiden großen Pranken in ihre wohlmanikürten kleinen Hände und drückte sie fest. Am liebsten hätte sie ihren Cousin mit großschwesterlicher Fürsorge und ängstlichen Fragen überschüttet, aber sie begriff, daß

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