Die toten Mädchen von Villette
Möglich, aber das entscheide ja nicht ich, wie ihr bei der Polizei eure Ressourcen verteilt. Ja, also viel Glück mit den deutschen Kontakten, Willy.
Sie brachte die Mappe mit der Christelle-Untersuchung zurück in Annicks Büro und ging dann wieder in ihr Dienstzimmer. Agnes Champenois hatte gerade den Beschluß, den Haftbefehl für Jean-Pierre Wastia aufzuheben, ausgeschrieben. Martine unterschrieb mit einem trotzigen Schnörkel am Namenszug. Dann drehte sie sich auf dem Schreibtischstuhl um und sah zum Bücherregal hinauf, wo die blinde Göttin der Gerechtigkeit ihr Schwert und ihre Waagschalehob. Martine hatte die Bronzestatuette gekauft, als sie vor bald drei Jahren ihre Ernennung zur Untersuchungsrichterin bekommen hatte, um sich selbst daran zu erinnern, daß ihre Aufgabe nicht darin bestand, Stellung zu beziehen, sondern unvoreingenommen Gerechtigkeit zu suchen. Zweifellos lächelte Frau Justitias Bronzemund unter der Augenbinde?
Sie erzählte Agnes rasch, was Pierre Montanard erzählt hatte. Es mußte bis auf weiteres als informelle Arbeitsnotiz in die Akte einfließen, aber jemand mußte sich mit der Gendarmerie in Fontainebleau in Verbindung setzen und einen offiziellen Bericht erbitten.
Und dann mußte sie herausbekommen, was für ein »VIP-Treffen« in Villette stattgefunden hatte, als Christelle Rolland ermordet wurde, wie immer das gehen sollte.
– Ganz einfach, sagte Agnes, das geht ohne größere Umstände. Ich habe eine Cousine, die seit Ewigkeiten in der Kanzlei des Bürgermeisters Akten wälzt, ich rufe an und frage, sie hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.
Sie hob den Hörer ab und wählte eine Nummer. Nach einer kurzen Unterhaltung hielt sie den Daumen hoch und lächelte, während sie das Gespräch mit einem kurzen Plausch, der für die ungeduldig wartende Martine eine Ewigkeit dauerte, über Verwandte und Urlaubspläne abrundete.
– Offenbar war in Villette im April 1982 ein Treffen der europäischen Außenminister, sagte Agnes, ein informelles Treffen. Damals waren zehn Länder in der Gemeinschaft, und die Außenminister aller zehn Länder waren hier. Es war ein Riesenzirkus, sagte meine Cousine, der Krieg um die Falkland-Inseln war im Gange, und wie gewöhnlich war eine Krise im Nahen Osten.
Ein europäisches Außenministertreffen in Villette, ein europäisches Gipfeltreffen in Fontainebleau und ein Rummel, um Villette als europäische Kulturhauptstadt zu lancieren – warum tauchte bei allen drei Ereignissen ein Serienmörder auf? Welches Anliegen hatte er?
Es klopfte an der halboffenen Tür.
– Können wir reinkommen? sagte Christian de Jonge. Wir müssen uns ein bißchen abstimmen, und Annick hat ein paar Ideen, die du, glaube ich, hören solltest.
Julie Wastia wünschte, ihr Onkel hätte ein anderes Auto gewählt. Es war recht schwierig, den Justizpalast in einem cremeweißen, gepanzerten Mercedes zu verlassen, auch wenn er dunkelgetönte Scheiben hatte. Sie parkten auf dem schmalen unbebauten Grundstück direkt neben dem Annex des Justizpalastes.
– Schicke Karre, stimmt’s, sagte Bruno Wastia und trommelte mit den Fingern ans Lenkrad, ich konnte ihn von einem Bekannten aus Bari kaufen, aber eigentlich war er auf dem Weg nach Albanien.
Er strich sich nervös mit einer Hand über die Haare und nahm mit der anderen ein Päckchen Gitanes aus dem Handschuhfach. Der Geruch von Haarwasser und Zigaretten wirkte schon betäubend in dem geschlossenen Raum, aber Julie wagte nicht, das Fenster herunterzukurbeln. Die dunklen Scheiben hatten trotz allem ihre Vorteile.
Ihr Herz hatte einen Freudensprung gemacht, als Agnes Champenois anrief, um zu erzählen, daß Martine sich entschlossen hatte, Jean-Pierre freizulassen, aber sie sah rasch ein, daß die Probleme für ihren Cousin nicht vorbei waren, nur weil er aus der Haft entlassen wurde. Die Gazette de Villette hatte zwar einen Artikel über die neue Spur derPolizei in der Untersuchung publiziert, aber in allen anderen Medien bekam man den Eindruck, daß die Schuld »des Einundzwanzigjährigen« so gut wie bewiesen war. Was bedeutete, daß viele über Martines Entscheidung empört sein würden und daß es darum ging, Jean-Pierres Abgang so unauffällig wie möglich zu gestalten.
– Hättest du nicht ein etwas diskreteres Auto finden können, sagte Julie, du glaubst doch nicht wirklich, daß wir beschossen werden?
– Man weiß nie, sagte Bruno finster, warte nur, bis du siehst, wie es bei mir aussieht. Du solltest jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher