Die toten Mädchen von Villette
sorgfältig einen Namen und eine Telefonnummer vor, bevor er wieder in einen Hustenanfall ausbrach, der so heftig war, daß Martine das Gefühl hatte, sie bekomme allein vom Zuhören Schmerzen in der Brust.
– Entschuldigen Sie, keuchte Pierre Montanard, als er diesmal fertiggehustet hatte, ja, meine Damen, da war noch etwas. Etwas, das mich schon damals vor zehn Jahren frappiert hat, aber da dachte ich, es wäre ein Zufall. Aber wenn Sie glauben, daß wir einen Serienmörder haben, der jahrelang in Europa gewütet hat, erscheint es in einem anderen Licht. Da war etwas an dem Fontainebleau-Fall, das mich an ein Mordopfer erinnert hat, das ich viel, viel früher in meiner Karriere obduziert habe. Ich will dazu im Moment nicht mehr sagen, ich muß noch ein paar Dinge kontrollieren. Aber ich verspreche, ich melde mich wieder, allerspätestens morgen.
Martine ging hinunter in den zweiten Stock, als Alice gegangen war. Da war etwas, das ihr in der Untersuchung von 1982 aufgefallen war, als sie sie überflogen hatte, eine Informationsscherbe, die in ihrem Bewußtsein hängengeblieben war und die relevant sein konnte. Annick Dardenne war nicht da, aber ihr Schreibtisch in dem fensterlosen Kabuff war beladen mit den Mappen und Archivboxen beider Morduntersuchungen. Sie schnappte sich die Christelle-Untersuchung, durchblätterte rasch die Mappen. Ja, da hatte sie es. Sie nahm die Mappe mit und ging hinüber zu Willy Bourgeois, der mit dem Telefonhörer am Ohr und einem Stift in der Hand in seinem geräumigen Dienstzimmer saß. Er sah sie in der Tür, beendete schnell das Gespräch und sah sie fragend an.
– Christelle hatte am Vormittag des Tages, an dem sieermordet wurde, einen Zusatz-Job, sie servierte auf einem Empfang im Rathaus. Was war das für ein Empfang?
Willy Bourgeois sah sie leer an.
– Keine Ahnung, sagte er, daran erinnere ich mich überhaupt nicht.
– Ja, aber überleg bitte noch mal, sagte Martine und versuchte, nicht ungeduldig zu klingen, es kann ungeheuer wichtig sein.
Sie reichte ihm die dicke Mappe quer über den Schreibtisch. Er nahm sie mit beiden Händen und starrte darauf, als solle sie sein Gedächtnis stimulieren.
– Ja, sagte er nach einer Weile, wenn ich nachdenke, erinnere ich mich vage, daß da ein paar Tage irgendein Rummel war, eine Art VIP-Treffen, genau, wir hatten eine Menge zusätzlicher Polizisten angefordert, und es war ein Empfang für die, die mit auf dem Treffen waren, glaube ich. Ich weiß nicht mehr, was für ein Treffen es war, aber das können wir ja rauskriegen, wenn du glaubst, es ist wichtig.
– Ich kümmere mich darum, sagte Martine. Wie geht es mit deinem deutschen Kontakt, Willy?
– Ich habe ihn den ganzen Tag gejagt, sagte Willy zufrieden, er war auf einer Konferenz im Haag und wird nach dem Lunch zurückerwartet. Ich habe gerade mit jemandem geredet, der versprochen hat, ihm eine Nachricht zu übergeben, wenn er hereinkommt.
– Wenn er von einem Fall weiß, der unserem ähnlich ist, frag ihn, ob ein großes Treffen oder eine Konferenz oder etwas Ähnliches in der Stadt war, in der es passiert ist, sagte Martine.
Willy Bourgeois sah sie forschend an, mit einem Blick, den sie allzu selten sah, einem Blick, der sie den energischen und ehrgeizigen jungen Polizisten ahnen ließ, der er früher einmal gewesen sein mußte.
– Glaubst du, sagte er langsam.
– Es ist eine Möglichkeit, sagte Martine, und ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber es ist etwas, das wir untersuchen müssen. Wir haben zwei Mädchenmorde in Villette in einem Abstand von zwölf Jahren mit wahrscheinlich demselben Täter. Sie ereignen sich beide, als in der Stadt ein großer Rummel im Gange ist. Und eben haben wir von einem von Alice Verhoevens Kontakten erfahren, daß 1984 in Fontainebleau ein Mord geschah, der an die Morde hier in Villette erinnert, und das zu dem Zeitpunkt, als dort ein europäisches Gipfeltreffen stattfand.
Willy Bourgeois nahm ein zerknittertes Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn.
– Der alte Walter wird bestimmt bald anrufen, sagte er, das ist ein Mann, auf den man sich verlassen kann. Aber er braucht sicher Zeit, um Nachforschungen anzustellen. Es wäre allzuviel Glück, wenn er sofort von einem Fall wüßte. Ich weiß nicht, wie das Bundeskriminalamt funktioniert, aber mit all den vielen Bundesländern in Deutschland …. Vielleicht ist es am besten, ich fahre nach Bonn.
Er sah Martine hoffnungsvoll an. Sie zuckte die Achseln.
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