Die toten Mädchen von Villette
einfachen Hintergrund, war aber so begabt, daß man ihn an der Universität studieren ließ. Er war Jurist und arbeitete als Notar, Sie wissen, so einer, der dafür sorgt, daßImmobiliengeschäfte und Geschäftsentscheidungen und so weiter gesetzlich werden?
Sie sah fragend Philippe an, der nickte.
– Simone war damals zwölf und der kleine Eric erst fünf, und Roger lag im Alter zwischen ihnen. Hélène lud ihn oft ein, mit ihren Kindern zu spielen, und dann kam ich meistens mit. Manchmal durfte ich nur in der Küche sitzen und auf ihn warten, aber Raymond und Hélène redeten auch manchmal mit mir. Besonders Raymond war neugierig, woher ich kam und was für Zukunftspläne ich hatte, und was die Leute in der Gegend, aus der ich kam, über die Lage im Lande dachten und sagten. Nun, Roger de Wachter war sehr verschossen in Simone, die ein süßes Mädchen war und sehr nett zu ihm, netter als irgend jemand in seinem ganzen Leben gewesen war, glaube ich. Sie lachte und scherzte und spielte Spiele mit Roger und lobte seine Zeichnungen, und manchmal spielte sie mit den Jungen im Garten wie ein richtiger Wildfang.
Huguette Morin machte eine Pause und sah in ihre Kaffeetasse, als denke sie nach. Als sie wieder aufsah, waren ihre Augen finster geworden.
– Es verging ein Jahr, sagte sie, und langsam fing ich ja an zu begreifen, in was für einer Gesellschaft ich gelandet war, wie naiv und blauäugig ich auch war. Manchmal mußte ich servieren, wenn Maurice Gäste hatte, und dabei hörte ich ja zwangsläufig, worüber sie redeten. Sie sprachen darüber, daß das allgemeine Wahlrecht das Land zerstört hätte, daß ein starker Staat wie in Italien und Deutschland gebraucht würde, gern mit mehr Macht für den König, so daß man mit Sozialisten und Kommunisten fertig werden und im Land Ordnung machen könnte. Manchmal war Degrelle da, Léon Degrelle, und wenn der redete, konnte sogar ichmeinen, daß es klug klang, so beredsam war er. Einmal, erinnere ich mich, fand ich die Leute besonders schrecklich. Ich habe doch gesagt, daß de Wachter einen Gärtner hatte? Er hieß Jaan, er konnte gut mit Blumen und Pflanzen, war aber darüber hinaus nicht der Gescheiteste. Eines Abends erzählte Maurice irgendetwas Dummes, das Jaan gesagt hatte, und alle lachten, und einer der Gäste zeigte auf seine Hunde und sagte, daß er lieber die wählen ließe als solche wie den Gärtner. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber an alles andere erinnere ich mich sehr deutlich. Er saß in einem Sessel und rauchte eine Zigarette mit Mundstück, links und rechts die beiden Hunde, zwei scheußliche Dobermanpinscher. Sie lagen ausgestreckt, den Kopf auf den Pfoten, und sahen aus, als schliefen sie, aber jedesmal, wenn ich in den Raum kam, schauten sie hoch und sahen mich mit ihren gelben Augen direkt an. Die Gäste trugen Frack und lange Kleider, erinnere ich mich, sie tranken Cocktails und lachten, und jemand spielte Klavier. Die Erinnerung ist immer noch ganz deutlich – die Klaviermusik, das Klirren von Glas, die eleganten Menschen, Zigarettenrauch und Parfüm, und dann dieser Mann, der lacht und sagt: »Man könnte das Wahlrecht genausogut den Hunden geben wie solchen Idioten. Ja, das Wahlrecht ist bei Wolfi und Lupo hier besser aufgehoben. Die wissen jedenfalls, wem sie zu gehorchen haben.« Und dann kam seine Frau und stellte sich hinter ihn und legte ihm die Arme um den Hals. Er hatte eine junge Frau, sie war nicht viel älter als ich und sah ziemlich kindlich aus, aber unglaublich schön in einem langen, grünen Kleid mit Perlenstickereien. Und sie sagte: »Und ich, Liebling, findest du nicht, daß ich das Wahlrecht bekommen müßte?« Ja, Frauen hatten ja kein Wahlrecht zu der Zeit. Aber da lachte er richtig böse und faßte so hart umihre Arme, daß sie blaue Flecken bekommen haben muß, und dann sagte er: »Ich glaube nicht, vielleicht, wenn du Gehorchen gelernt hast. Aber da fehlt noch ein Stück, stimmt’s, Liebste?«
Huguette Morin verstummte und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Ihre Hand zitterte ein wenig.
– Daß ich mich so gut daran erinnere, sagte sie verwundert, und komischerweise rege ich mich immer noch auf, wenn ich darüber rede.
– Das muß ein wichtiger Augenblick für Sie gewesen sein, sagte Philippe.
– Ja, so war es wohl. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, ich wurde erwachsen, und ich begriff, daß ich eine Welt, in der diese Menschen bestimmten, nicht wollte.
– Wann war das? fragte
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