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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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Philippe.
    – Es muß 1939 gewesen sein, sagte sie, spät im Jahr, ich erinnere mich, daß es nach Kriegsausbruch war.
    Sie sah ihn mit einem Funkeln in den Augen an.
    – Fragen Sie sich, warum ich dort geblieben bin? Ich habe keine Sekunde daran gedacht, da aufzuhören. Ich hatte viel zu viel Spaß! Die Zöpfe und die Holzschuhe hatte ich seit langem abgelegt, ich hatte mir die Haare schneiden lassen und neue Kleider angeschafft und viele Freunde gefunden. Abends gingen wir tanzen oder in Jazzklubs. Mit Maurice de Wachter hatte ich selten etwas zu tun und mit seinen Bekannten noch weniger. Und meine Arbeit war nicht besonders schwer. Die Haushälterin, die den Haushalt führen sollte, war meistens mit Saufen beschäftigt, und solange ich machte, was von mir erwartet wurde, und nicht darüber tratschte, wieviel sie von den Flaschen im Weinkeller stibitzte, hatte ich ziemlich freie Hand.
    – Haben Sie überhaupt noch eine Erinnerung an meine Mutter aus dieser Zeit? fragte Philippe.
    – Renée, ja, sagte sie, ja, ich glaube, es war im Herbst 1939, daß sie und Simone Busenfreundinnen wurden und sie anfing, zur Familie Janssens ins Haus zu kommen. Sie kam fast jeden Tag mit ihrer blauen Baskenmütze und den Schulbüchern auf dem Gepäckträger angeradelt. Sie und Simone waren Schulkameradinnen, sie gingen in eine katholische Mädchenschule, und sie waren romantisch und patriotisch und voller Ideale, während sie gleichzeitig immer noch gern im Garten herumliefen und Eric jagten. Aber man merkte, daß sie langsam erwachsen wurden. Und Roger war wohl etwas eifersüchtig auf Renée, darauf, daß Simone und sie so unzertrennlich geworden waren.
    – Ja, das war die Zeit vor dem Krieg. Aber dann kam der 10. Mai 1940, als die Deutschen uns und die Niederländer angriffen. An diesem Tag wurden wir alle in der Rue de l’Étoile Polaire Nummer 6 im Morgengrauen geweckt, weil es hart an der Tür klopfte. Ich kam zuerst aus dem Bett und lief hinunter und machte auf, und da stand Polizei draußen, belgische Polizisten. Sie waren gekommen, um Maurice de Wachter zu arrestieren. Sie wissen vielleicht, daß eine große Razzia stattfand, bei der man verdächtige Mitglieder der fünften Kolonne jeder Couleur und Ausländer und alle möglichen einsammelte? Aber Maurice war nicht zu Hause. Jemand mußte ihn gewarnt haben, denn er hatte sich während der Nacht davongemacht, ohne daß es jemand gemerkt hatte. Gott weiß, wo er abgeblieben war, das haben wir nie erfahren, und es dauerte bis zum Juli, bis er zurückkam. Da hatte Belgien kapituliert, und die Regierung war geflohen, und die Deutschen setzten eine Militärverwaltung ein, die über uns herrschen sollte. Aber während der Wochen, die er weg war, zog Roger praktisch zu den Nachbarn hinüber. Er tat Hélène leid, und sie lud ihn ein, mit ihnen zu essen, under war tagelang da und schwänzelte hinter Simone her wie ein Hundewelpe.
    Ja, und jetzt lebten wir also in einem besetzten Land. In den ersten Monaten gab es viele, die vor allem wütend auf die Regierung und die belgischen
     Politiker waren, die sie im Stich gelassen hatten, und fanden, man sollte das Beste aus der Situation machen. Die Deutschen wirkten immer noch so
     unüberwindlich. Aber es wurde immer schwerer zu leben, der Winter war ungewöhnlich kalt, und allmählich herrschte Mangel an Nahrungsmitteln und allem
     möglichen. Und es gab so viele kleine Dinge, die einem zeigten, daß man nicht in einem freien Land lebte. Können Sie sich vorstellen, daß Tanzen verboten
     wurde – Tanzverbot hieß das auf deutsch. Das gefiel mir nicht.
    Sie verstummte und betrachtete Philippe.
    – Aber Sie wollten ja nicht von meinen Erlebnissen während des Krieges hören, sondern von Renées und Simones. Sie müssen Bescheid sagen, wenn ich zu sehr abschweife. Aber ich glaube, jetzt muß ich über David reden. David Mendel?
    Sie sah Philippe an, als müßte ihm der Name etwas sagen. Das tat er nicht.
    – Es war nämlich so, fuhr sie fort, daß Simone Janssens ein Mathematikgenie war. Sie würde eine neue Sonja Kovalevskaja werden, glaubten ihre Eltern, und deshalb besorgten sie ihr einen Privatlehrer in Mathematik, damit sie ihre Begabung entwickeln konnte. Und das war David. Er war ebenfalls ein Mathematikgenie, er war erst zwanzig, aber schon dabei, an der Universität in Mathematik zu promovieren. Sein Vater war Diamantenhändler, keiner von den größeren, aber er besaß auch ein paar Immobilien in Brüssel, und er hatte

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