Die toten Mädchen von Villette
Falten und den übrigen Verheerungen der Zeit das lebhafte, schöne Mädchen sehen ließ, an das sich Lucienne so gut erinnern konnte.
Das Café war beinah leer, und sie fanden einen Tisch in einer ruhigen Ecke.
– So, sagte Huguette Morin, was soll ich Ihnen erzählen? Vor den Häusern zu stehen hat so viele Erinnerungen geweckt, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Und es ist so traurig, an diese Zeit zurückzudenken, jetzt, wo alle fort sind. Ich habe Renées Todesanzeige gesehen, als sie vor ein paar Jahren starb, und vor ein paar Wochen habe ich gesehen, daß der arme kleine Eric jetzt auch tot ist. Und daß er ermordet wurde, schrecklich, als ob ein Unglücksschicksal über der Familie Janssens hinge.
Sie nahm ihre Serviette und wischte sich vorsichtig die Augenwinkel.
– Fangen Sie von vorn an, sagte Philippe, erzählen Sie davon, wie Sie zum ersten Mal in die Rue de l’Étoile Polaire gekommen sind. Sie müssen damals sehr jung gewesen sein?
– Ich war sechzehn, sagte sie, ein richtiges Bauernmädchen mit Holzschuhen und Zöpfen, aber ich wollte nach Brüssel und die Welt sehen. Meine Eltern hatten einen Hofbei Bouillon, und einer meiner Brüder arbeitete in einer Brauerei dort, und der Eigentümer der Brauerei hatte einen Bekannten in Brüssel, der ein zuverlässiges Mädchen vom Lande mit geringen Lohnansprüchen einstellen wollte, als Hilfe bei den Kindern und im Haushalt. So kam ich 1938 in Maurice de Wachters Haus.
– Maurice de Wachter, sagte Philippe erstaunt, ich dachte, Sie hätten bei der Familie Janssens gearbeitet?
– Das war später, sagte Huguette Morin, zuerst war ich bei de Wachter. Er war damals seit mehreren Jahren Witwer, und Roger, sein Sohn, war neun.
Daß de Wachter Witwer gewesen war, wußte Philippe schon. Tim Debaere hatte sich an sein Versprechen gehalten, mehr über de Wachters Familie in Erfahrung zu bringen. Er hatte Philippe am Abend angerufen und erzählt, daß Maurice de Wachter 1928 eine Französin, Suzanne Frémont aus Lille, geheiratet hatte, die schon im Jahr darauf gestorben war, vermutlich im Kindbett, denn das Paar hatte einen Sohn, der im Januar 1929 geboren war.
– Sie waren hier damals neu eingezogen, fuhr Huguette Morin fort, vorher hatten sie in einer großen Wohnung in Brüssel gewohnt, aber Maurice hatte irgendein riesiges Spekulationsgeschäft gemacht und diese Villa hier errichten lassen. Ich wußte nie richtig, womit er sich eigentlich beschäftigte, er schrieb in Zeitungen, aber er machte auch eine Menge Geschäfte. Reichlich Geld hatte er jedenfalls, und außer mir gab es eine Haushälterin, eine Köchin und einen Gärtner.
– Wie war Maurice de Wachter? fragte Philippe.
Huguette Morin sah nachdenklich aus.
– Er konnte sehr charmant sein, sagte sie, aber ich mochte ihn nicht. Er sah gut aus, groß und dunkel, immer elegantgekleidet, war großzügig und hatte einen großen Bekanntenkreis. Er war ja politisch tätig, am äußeren rechten Rand, aber von so etwas wußte ich zu dieser Zeit nichts. Nein, der Grund dafür, daß ich Maurice de Wachter nicht mochte, war, daß ich mich viel um seinen Sohn kümmern mußte, und als Vater war er entsetzlich. Meistens verhielt er sich so, als würde der kleine Roger gar nicht existieren, und wenn er den Jungen beachtete, ging der ihm meistens auf die Nerven. Roger hatte Angst vor seinem Papa, und das fand ich schrecklich, ich hatte so liebe Eltern zu Hause. Maurice schlug ihn manchmal, und dann wurde er wieder wegen eines harmlosen Unfugs stundenlang in den Keller gesperrt. Einmal hatte er Roger zum Beispiel in der Bibliothek dabei ertappt, wie er in einer illustrierten Ausgabe von Boccaccios »Decamerone« blätterte, da mußte er über Nacht im Keller sitzen. Madame de Wachter war künstlerisch veranlagt gewesen, und Roger kam nach ihr. Er zeichnete und malte gern und sah gern Bilder an, aber das gefiel Maurice nicht. Er fand, das war nicht männlich, wissen Sie, keine Beschäftigung für einen Mann oder einen Jungen.
Philippe empfand einen Anflug von Sympathie für den unbekannten Roger de Wachter. Lebte er noch, und wenn ja, wie alt wäre er dann?
– Aber wir hatten auch noch ihre Nachbarn, fuhr Huguette Morin fort, die ich mochte, seit ich sie zum ersten Mal getroffen hatte. Das war die Familie Janssens, Raymond und Hélène und deren Kinder Simone und Eric. Es war Hélène, die dort das Geld hatte, sie war das einzige Kind eines vermögenden Baumeisters. Raymond dagegen hatte einen sehr
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