Die toten Mädchen von Villette
nachdrücklichsten Professorenstimme, mag sein. Aber wenn man anfängt, wegen des Staatswohls von den Prinzipien des Rechtsstaates abzugehen, hat man den ersten Schritt auf eine schiefe Ebene getan, die in staunenerregendem Tempo zu Viehwaggons und Konzentrationslagern führen kann. Wißt ihr, wie dieses Land während der deutschen Besetzung im letzten Krieg regiert wurde? Es wurde von Staatssekretären regiert, von Beamten, die den Befehl bekommen hatten, den Staatsapparat so intakt wie möglich zu halten und dafür zu sorgen, daß so viel wie möglich von der Regierung des Landes in belgischen Händen blieb. Alle Beamten des Staates hatten Instruktionen, zum Besten der Bevölkerung mit den Besetzern zusammenzuarbeiten. Und viel zu oft führte das dazu, daß man Völkerrecht und Verfassung mit Füßen trat, um nicht in Konflikt mit Anordnungen der deutschen Militärverwaltung zu geraten. Belgische Staatsbürger jüdischer Herkunft zu registrieren und zu segregieren widersprach der Verfassung des Landes, und sie zögerten ein wenig, bevor sie es taten, aber schließlich taten sie es doch. Sie wollten Gutes, sie dachten an das allgemeine Wohl, aber heute wissen wir, wo das endete. Ja, verglichen damit sind es natürlich kleine Fische, wenn ein Gemeindebeamter sich aus Sorge um das Beste der Stadt wünscht, daß der Richter einen jungen Mann in Haft behält, obwohl er unschuldig ist. Aber das Prinzip, meine Freunde, das Prinzip ist dasselbe.
Das war eine Schlußreplik, die beinah nach Applaus schrie, und Tatia applaudierte willig.
– Wow, sagte sie, was für eine Vorlesung! Aber ich dachte, du beschäftigst dich mit mittelalterlicher Geschichte, Thomas.
Thomas lächelte sie an.
– Manchmal, Catherine, schauen auch wir Mittelalterhistoriker aus unserem Elfenbeinturm, um die Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, zu denen unsere mehr gegenwartsorientierten Kollegen gekommen sind. Ich kenne einen Forscher in Brüssel, Tim Debaere, der sehr interessant über die Kriegsjahre geschrieben hat. Ich habe übrigens deinen Vater zu ihm geschickt, er wollte Kontakt mit jemandem, der speziell über den Krieg und die Besetzung geforscht hat.
Martine wunderte sich. Aber bevor sie dazu kam, Thomas zu fragen, was er und Philippe ausgeheckt hatten, klingelte es an der Tür. Sie ging hin und öffnete. Draußen stand ein junger Polizist mit einem braunen Umschlag in der Hand.
– Madame Poirot? sagte er. Ich soll Ihnen das hier vom Justizpalast übergeben.
Mit Fingern steif vor Spannung riß Martine den Umschlag auf und zog drei zusammengeheftete Papiere heraus. »Medienrepräsentanten beim informellen Außenministertreffen in Villette-sur-Meuse 16. - 17. April 1982« stand auf dem obersten Papier. Es enthielt um die hundert Namen.
Sie nahm das Dokument heraus, das sie von Jean-Pierre Santini bekommen hatte, und fing an, die beiden Listen zu vergleichen. Es war schwerer, als sie erwartet hatte, weil die Namen auf der Liste von 1982 nicht in alphabetischer Reihenfolge standen, sondern nach einem anderen rätselhaften System, das mit dem Herkunftsland der Journalisten und dem Medientyp, den sie vertraten, zusammenhing, geordnet waren.
Aber schließlich konnte sie sechs Namen abhaken, die in beiden Listen enthalten waren. Zwei davon kannte sie: Nigel Richards und Francesco Marinelli.
Zwei Männer, die auf den Bildern waren, die Sophies Freund der Polizei übergeben hatte. Zwei internationale Journalisten, die nur Stunden, bevor sie ermordet wurde, mit Sabrina Deleuze geredet hatten.
KAPITEL 9
Dienstag, 28. Juni 1994
Villette & Brüssel
Philippe nahm am Morgen die Straßenbahn nach Uccle. Auf der wohlbekannten Straße dahinzurasseln fühlte sich an wie eine Reise zurück in der Zeit. Chaussée de Charleroi, Avenue Brugmann, Wolvendaelpark – obwohl er seit sechs Jahren keinen Fuß nach Uccle gesetzt hatte, erinnerte sich sein Körper noch an jede Kurve und jede Unebenheit in der Spur, die er in den ersten neunzehn Jahren seines Lebens so viele Male entlanggefahren war.
Er war selbst erstaunt gewesen, als er erkannt hatte, daß er das Viertel seiner Kindheit nicht ein einziges Mal besucht hatte, seit seine Eltern gestorben waren und er sich von Bernadette hatte scheiden lassen. Aber er hatte alle Türen zu seiner Vergangenheit geschlossen, aus Angst, Verachtung und Distanzierung von denen zu begegnen, die ihn gekannt hatten, als er ein begabter Schuljunge, ein vielversprechender junger Jurist, ein prächtiger Familienvater mit
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