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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Hedström
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schöner Frau und süßer kleiner Tochter gewesen war. In der Tiefe seines Herzens hatte er gespürt, daß ihn keiner von ihnen akzeptieren würde, wenn sie erst wußten, wer er eigentlich war. Es fiel ihm schwer, sich von der Erinnerung an François Vandermeersch, Bernadettes jüngeren Bruder, zu befreien, der mit rotem und vor Haß verzerrtem Gesicht gezischt hatte: »Solche wie du dürften nicht leben.«
    Tatia hatte alles abbekommen, natürlich. Ihre Distanzierung hatte er mehr als alles andere gefürchtet, und deshalbhatte er sie lieber verraten, indem er mehrere Jahre aus ihrem Leben verschwand, als zu riskieren, in ihren Augen den gleichen Abscheu zu sehen. Er dachte oft, daß es mehr war, als er verdiente, daß sie jetzt eine gute Beziehung hatten. Tatia und Martine waren die einzigen Menschen auf der Welt, die ihm eigentlich etwas bedeuteten, etwas, das Martine zu sagen er sich nie träumen ließe und das zu hören sie sicher wundern würde. Daß er jetzt versuchte, die Wahrheit über Renée zu erfahren, war ein Versuch, Tatia und Martine für seinen Verrat an ihnen zu entschädigen.
    Er stieg in der Nähe der Brücke über die Eisenbahn aus und ging zu Fuß zur Rue de l’Étoile Polaire, eine Straße, von der er kaum wußte, daß sie existierte, obwohl sie nicht weit von seiner alten Schule entfernt lag. Er verstand, warum, als er sie sah. Es war ein schmaler, kurzer Straßenstummel mit rissigem Asphaltbelag, und sie mündete in die Avenue, die um den Observatoriumshügel verlief. Sogar im flutenden Sonnenlicht des Junimorgens wirkte sie düster und öde, vielleicht weil eine Seite nur von Büschen, Sträuchern und Gräsern gesäumt war, stellenweise niedergetreten und voll mit fettigem Papier, verbeulten Dosen und benutzten Kondomen. Auf der anderen Seite befanden sich drei große Grundstücke mit verwilderten Gärten, aber nur zwei Häusern.
    Eine Frau wartete mitten auf der Straße auf ihn. Sie mußte etwas über siebzig sein, sah aber jugendlich und vital aus, gekleidet in eine schwarze lange Hose und eine kurzärmelige weiße Bluse. Die weißen Haare waren kurzgeschnitten und ihre braunen Augen lebhaft.
    – Madame Morin? sagte er fragend, als er in Hörweite kam.
    – Sicher, sagte sie und sah forschend zu ihm auf, und daßSie Renées Sohn sind, das sehe ich. Sie sind ihr sehr ähnlich.
    Um Huguette Morin zu finden, war er gezwungen gewesen, widerwillig eine zweite seiner geschlossenen Türen zu öffnen. Nach seinem Besuch bei Tim Debaere am Montag war ihm eingefallen, daß seine Tante Lucienne in dieselbe Schule gegangen war wie Renée und Simone Janssens und vielleicht etwas wußte, auch wenn sie ein paar Jahre älter gewesen waren als sie. Aber er hatte seit sechs Jahren nicht mit Lucienne geredet, und es widerstrebte ihm, sie anzurufen. Die Schwester seines Vaters hatte auch zunächst merklich kühl geklungen, war aber nach einer Weile aufgetaut und hatte erzählt, daß Simone Janssens ihr Nachhilfestunden in Mathematik gegeben hatte. Sie war sehr oft in dem Haus an der Rue de l’Étoile Polaire gewesen und erinnerte sich, daß die Familie Janssens eine junge Haushaltshilfe, Huguette Morin, gehabt hatte, die während der Kriegsjahre des konstanten Mangels und der ständigen Sorge mehr wie eine Freundin für Simone und ihre Freundin geworden war. Dann hatte Philippe Madame Morin im Telefonbuch gefunden, sie angerufen und sich mit ihr verabredet.
    – Ja, hier ist also alles passiert, sagte Huguette Morin, ich dachte, daß Sie es vielleicht zuerst sehen wollten. Hier in der Nummer 4 wohnte die Familie Janssens, und hier in der Nummer 6 wohnte Maurice de Wachter. Das Haus brannte kurz nach dem Krieg ab, und es gab niemanden, der es wieder aufbauen wollte. Ich weiß nicht, wem das Grundstück jetzt gehört.
    – Es ist eine komische Stimmung hier, sagte Philippe zögernd.
    – Man sagt, daß es spukt, sagte Madame Morin ernst, das ist natürlich nur Aberglaube, aber Gewalt und Tod undVerrat hinterlassen vielleicht Erinnerungen, die bleiben. Jemand hat einmal versucht, in Nummer 4 ein Restaurant zu starten, aber das mußte ziemlich schnell wieder zumachen, und dann war da eine Weile ein Kindergarten, aber jetzt steht es leer. In Nummer 2 sitzt wohl irgendein religiöser Orden. Wollen wir uns irgendwo hinsetzen, wo wir reden können? Es gibt ein nettes Café hier in der Nähe.
    Philippe bot ihr höflich seinen Arm an. Sie nahm ihn und lächelte ihm zu, mit einem Funkeln in den Augen, das ihn unter den

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