Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
vom Gehweg kratzt und in einen Plastikeimer befördert. Er trägt ein T-Shirt, auf dem der Osterhase an einem Kreuz hängt. Darauf steht Jesus hatte ein Stuntdouble, und ich frage mich, wie Vater Julian wohl darauf reagiert hätte. Ein anderer Typ, der Klebstoff schnüffelt, lehnt gegen einen Fahrradständer und schaut ihm dabei zu. Offensichtlich kommen die Verrückten samstags schon etwas früher aus ihren Löchern gekrochen.
Ich laufe an ihnen vorbei durch den Regen zu meinem Wagen.
Kapitel 49
Ich kann es kaum erwarten, die Bänder anzuhören, aber ich habe nichts, um sie abzuspielen. Ich schütte den Inhalt des Plastikbeutels auf den Beifahrersitz. Es sind vielleicht vierzig Bänder. Ich öffne die Buchführungskladde; es scheint sich um eine Art Protokoll zu handeln. Die Datumsangaben stimmen offensichtlich mit denen auf den Mikrokassetten überein. Ich fange an, die Bankauszüge durchzublättern. Es sind über hundertfünfzig, einer für jeden Monat. Lauter Beträge, Daten und Namen. Vergeblich suche ich nach Henry Martins’ Namen. Trotzdem, was wie eine zufällige Verbindung zwischen ihm und Rachel Tyler aussah, erscheint plötzlich gar nicht mehr so zufällig.
Ich werfe alles zurück in den Beutel und fahre zum nächstgelegenen Einkaufszentrum. Doch das Einzige, was sie dort zum Abspielen von Gesprächen auf Lager haben, ist ein Digitalgerät. Sie empfehlen mir allerdings ein paar Geschäfte, wo ich es versuchen kann. Und schließlich werde ich fündig.
Als ich zum Wagen meines Vaters zurückkehre, muss ich feststellen, dass sich einer der Einkaufswagen von den anderen gelöst hat und gegen die hintere Stoßstange gekracht ist, wo jetzt eine kleine Beule prangt, die mein Vater, das weiß ich, wahrscheinlich genau dann bemerken wird, wenn ich mit dem Auto in die Einfahrt biege. Das sei der Grund, wird er sagen, warum er von Anfang an dagegen war, mir den Wagen zu leihen. Und wenn er dahinterkommt, dass ich ohne Führerschein fahre, wird er sich nur bestätigt fühlen. Scheiße, wenn wir auf den Mond fliegen können, wird es im Digitalzeitalter doch bestimmt auch irgendwann möglich sein, dass Einkaufswagen selbstständig in den Supermarkt zurückfahren.
Ich bestücke den Kassettenrekorder mit frischen Batterien und greife wahllos eines der Bänder heraus. Ich habe eine ziemlich klare Vorstellung davon, was mich erwartet, und als ich die Play-Taste drücke, wird meine Vermutung nach wenigen Sekunden Rauschen bestätigt.
»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.«
»Wie lange ist es her, seit du das letzte Mal gebeichtet hast?«
Vater Julians Stimme ist tief und klar. Es jagt mir einen Schauer über den Rücken, die Stimme eines toten Mannes zu hören, und es macht mich krank zu wissen, dass er all die Leute auf diesen Bändern hintergangen hat. Die andere Stimme könnte irgendwer sein. Es handelt sich um einen Mann. Vielleicht zwanzig Jahre alt. Vielleicht achtzig.
»Ich habe es wieder getan.«
»Was hast du wieder getan?«
Ich werfe einen Blick auf die Namen, die Julian fein säuberlich in sein Protokoll eingetragen hat. Die Beichte sollte eigentlich vollkommen anonym sein, doch vermutlich sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. Ich denke, dass der Priester zumindest eine ungefähre Vorstellung davon hat, mit wem er redet, denn es handelt sich wahrscheinlich um jemanden aus seiner Gemeinde.
»Ich habe meine Frau betrogen. Ich weiß, das ist nicht richtig, doch ich kann nichts dagegen tun. Ich bin dann nicht mehr ich selbst. Ich weiß zwar, dass das, was ich tue, nicht richtig ist, aber wenn ich es tue, denke ich nicht an die Folgen.«
»Vielleicht denkst du daran und ignorierst sie einfach.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht haben Sie recht. Das würde eine Menge erklären.«
Ich drücke auf die Stopp-Taste und spule das Band ein Stückchen weiter. Als ich es erneut abspiele, ertönt Vater Julians Stimme.
»… um zu begreifen, dass du nicht nur dir selbst Leid zufügst.«
»Ich weiß, ich weiß.« Es ist eine Frauenstimme. »Es ist nur so, dass … na ja, manchmal kann ich nichts dagegen tun. Dann bin ich nicht mehr ich selbst.«
»Vielleicht solltest du es mal von einem anderen Blickwinkel …«
Ich drücke auf Stopp. Himmel, ist das die Standardausrede? Dass sie für nichts in ihrem Leben verantwortlich sind? Dass das, was sie tun, entschuldbar ist, weil sie nicht sie selbst sind?
»Wenn es passiert, bin ich jemand anders. Dann bin ich nicht mehr ich selbst«, hat Quentin James
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