Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
gesehen, stimmt’s?«
»Nein.«
»Dann kannst du dich bei mir bedanken. Du kannst sie wie ihre Schwester beerdigen. Meine Schwester.«
Vater Julian fängt an zu weinen. Sein Schluchzen auf dem Band ist das Schlimmste, was ich je hören musste.
Ich drücke auf Pause und flüchte in die Küche. Dort mache ich mir einen Kaffee. Plötzlich habe ich keine Lust mehr, mir den Rest des Gesprächs anzuhören. Ich will die Bänder nur noch verbrennen, zum nächsten Schnapsladen fahren und mich mit Bourbon zuschütten, bis ich nichts mehr spüre, so wie letzten Monat. Vater Julians Schluchzen hat mir die Tränen in die Augen getrieben. Als ich sie schließe, laufen sie mir über die Wangen. Wenn er diesen Bekenntnissen lauscht, bin ich ihm ganz nahe. Ich weiß, wie er sich fühlt, während er hört, dass seine Tochter tot ist. Ich habe das nur einmal durchgemacht. Er zweimal. Oder noch öfter? Ich glaube schon. Ich glaube, dass er das viermal durchgemacht hat. Wurde es leichter oder schlimmer für ihn? Hat es ihn altern lassen, ist er daran zerbrochen, hat er deswegen seinen Gott verleugnet, oder ist sein Glaube dadurch noch stärker geworden?
Obwohl er wusste, was geschah, hat er das Beichtgeheimnis nicht gebrochen. Er konnte nur dagegen versto ßen, um Ehebrecher zu erpressen, aber nicht, um seine Kinder zu retten. Unglaublich, was für verquere Moralvorstellungen Vater Julian hatte. Er muss jeden Tag mit sich gehadert haben. Vielleicht hatte er einfach genug davon. In den vier Wochen vor seinem Tod ist er nicht mehr an seinem Schließfach gewesen. Er wusste, dass der Schlüssel verschwunden war, vielleicht auch, dass Bruce ihn mitgenommen hatte. Vielleicht hat er sogar herausgefunden, dass Bruce ihn mir gegeben hatte. Ich glaube, er wusste, dass das Ganze bald ein Ende finden würde.
Ich rühre den Kaffee nicht an. Sondern lasse ihn auf der Arbeitsfläche stehen und gehe zurück ins Büro.
»Du kannst am Grab der beiden beten, Vater. Zur gleichen Zeit.«
»Woher wusstest du, dass sie deine Schwester ist?«
»Vielleicht kann Gott dir das sagen.«
Die Beichte ist beendet. Ich suche die dritte Sitzung heraus und spule zu dem Timecode für den Namen John Philips.
»Warum tust du das?«, fragt Vater Julian, als sein Sohn ihm erzählt, dass er eine weitere seiner Schwestern getroffen hat. »Was haben sie dir getan?«
»Es geht darum, was sie hätten tun können.«
»Warum das alles? Warum kommst du her und erzählst mir das?«
»Weil du meine ganze Familie bist.«
Ich höre weiter zu. Das Gespräch verläuft ähnlich wie die anderen. Vater Julian schluchzt genauso laut. Ein Name fällt: Jessica Shanks. Sie war das dritte und älteste der verschwundenen Mädchen. Für sie hat Vater Julian als Erste bezahlt, fünf Jahre bevor Rachel geboren wurde.
Ich stoppe das Band und lege die letzte Beichte ein.
»Jetzt sind sie alle tot, Vater.«
»Ich möchte nicht, dass du noch mal herkommst.«
» Alle meine Schwestern. Du kannst sie besuchen, wann immer du willst. Nimmst du dir jetzt endlich die Zeit dafür?«
»Ich möchte, dass du verschwindest.«
»Hab ich recht?«
»Was?«
»Es gibt nicht noch mehr, oder?«
»Nein.«
»Wenn du mich anlügst, Vater, finde ich das raus.«
»Ich weiß.«
»Ich wäre nicht erfreut.«
»Das ist die Wahrheit.«
»Wenn du lügst, Vater, werde ich zwei Dinge tun. Ich werde die Mädchen aufspüren und sie töten, ich werde sie leiden lassen. Und weißt du, was ich dann tun werde?«
»Nein.«
»Ich werde hierherkommen, Dad, und dir die Zunge rausschneiden, damit du mich nie wieder anlügen kannst.«
Kapitel 52
Mehr muss ich nicht hören. Die toten Mädchen sind Vater Julians Töchter. Ihr Mörder ist Vater Julians Sohn. Ich werfe einen Blick auf die Fotos von Jeremy, Simon und Bruce. Dann betrachte ich die Aufnahme des fünften Mädchens, Deborah. Vielleicht ist sie bereits tot, tot und begraben, für immer fort, vielleicht lebt sie aber auch in einer anderen Stadt in einem anderen Teil der Welt, Ozeane und Landmassen von all dem hier entfernt.
Aus Vater Julians Aufzeichnungen geht zwar hervor, wen er erpresst hat, aber nicht, wie viele Kinder er hatte. So wenig wie aus den Kontoauszügen. Zum einen taucht darauf keiner der Aldermans auf. Zum anderen reichen die Informationen nicht aus, um festzustellen, gegenüber wie vielen Frauen Vater Julian seine Position ausgenutzt hat.
Auf den Kontoauszügen stehen sieben Namen. Vier davon stammen von den Familien der toten Mädchen.
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