Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
immer fort ist.
»Ich habe ihr von dir erzählt. Sie wusste nicht, wer ihr Vater ist, doch kurz vor ihrem Tod habe ich es ihr gesagt. Sie hat alles erfahren, was sie wissen wollte, und einiges mehr, mehr als sie ertragen konnte. Glaubst du, dass dieses Wissen sie getröstet hat?«
»Ich … ich …«
»Du was, Vater? Du weißt nicht? Du weißt nicht, was du sagen sollst? Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich herausgefunden habe, wer ich bin? Was glaubst du, wie man sich fühlt, wenn man verlassen wird?«
»Bitte, bitte nicht …«
»Was? Du weißt nicht, was du tun sollst, nicht wahr, Vater? Du bist hilflos. Hast du plötzlich das Gefühl, dass Gott dich im Stich gelassen hat? Ich weiß, wie es ist, wenn man verlassen wird. Man kommt sich hilflos vor, und genauso hat sich Rachel Tyler in ihren letzten Momenten gefühlt. Wie sieht’s aus, Vater, willst du immer noch was für sie tun?«
Vater Julian antwortet nicht. Ich kann seinen Atem hören. Er ist lauter, als das auf einem Kassettenrekorder mit so einem kleinen Lautsprecher eigentlich möglich ist. Die Stimmen klingen blechern, doch das Atemgeräusch ist tief wie das von einem verwundeten Wal.
»Du kannst sie nicht töten«, sagt er schließlich, doch es ist lächerlich, so etwas zu einem Mann zu sagen, der die Tat bereits begangen hat. » Bitte, bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist.«
»Beerdige sie«, sagt der Mörder.
»Was?«
»Ich biete dir eine einmalige Chance, Dad. Du kannst sie beerdigen und für sie beten. Du kannst sie besuchen, so oft du willst – etwas, das du nicht getan hast, als sie noch am Leben war.«
»Das ist verrückt«, sagt Vater Julian.
»Was bleibt dir anderes übrig? Ich habe sie für dich aufgehoben, damit du sie beerdigen kannst. Sie ist hier in deiner Kirche. Zur Polizei kannst du nicht gehen, denn du kannst es dir nicht leisten, dass deine Gemeinde von deiner Tochter erfährt. Oder dass du noch mehr Kinder hast.«
»Das stimmt nicht.«
»Und was ist mit mir? Dir bleibt nichts anderes übrig, als sie zu beerdigen und zu beten, und vielleicht können wir das nächste Mal darüber reden.«
»Das nächste Mal?«
Doch der Mann antwortet nicht. Die Türen des Beichtstuhls öffnen und schließen sich wieder. Vater Julian schreit dem Mann hinterher, er solle warten, kurz darauf sind Schritte zu hören und dann gar nichts mehr. Nach ein paar Sekunden verstummt das Band, und zehn Sekunden später ertönt eine weitere Stimme aus dem Lautsprecher und beichtet, dass sie sich zu einer anderen Frau hingezogen fühlt.
Ich spule das Band zurück und höre es mir erneut an. Die Worte von Rachels Mörder jagen mir einen Schauer über den Rücken und sorgen dafür, dass sich mein Magen zusammenzieht. Die beiden noch einmal zu hören reicht fast aus, um mich ins Innere des Beichtstuhls zu versetzen. Ich frage mich, wo Rachel Tylers Leiche abgeladen wurde; ob er sie auf eine der Bänke oder die Eingangsstufen gelegt hat. Ich stelle mir vor, wie Vater Julian sie im Arm wiegt und am liebsten die Polizei verständigen würde, aber noch wichtiger ist ihm, dass sein Geheimnis nicht herauskommt. Er war so feige, dass er das Beichtgeheimnis nicht gebrochen hat, dass er Bruce, seinen Sohn, darum gebeten hat, die Mädchen – und mit ihnen die Wahrheit – zu begraben.
Erneut wende ich mich den Aufzeichnungen zu und finde das Datum, an dem das zweite Mädchen verschwunden ist. Ich höre immer wieder in das entsprechende Band rein, bis schließlich dieselbe Stimme wie eben ertönt. Dann spule ich zum Anfang des Gesprächs zurück.
»Du hast mich belogen, Vater.«
»Wann habe ich dich belogen, mein Sohn?«
»Mein Sohn? Das trifft es genau, oder?«
»Mein Gott.«
Ich halte das Band an und vergleiche den Timecode mit den Aufzeichnungen. Diesmal hat Vater Julian den Namen Luke Matthews notiert. Das letzte Mal war es Paul Peters. Ich überprüfe den Rest der Aufzeichnungen und stoße auf weitere Namen, die mir bekannt vorkommen: John Philips und Matthew Simons. Vier Namen, die aus den englischen Namen der Apostel zusammengesetzt sind. Vater Julian hat nie den richtigen Namen seines Sohns aufgeschrieben. Kannte er ihn nicht? Hat er überhaupt für ihn Unterhalt gezahlt? Oder hat er ihn ganz im Stich gelassen?
»Ich wusste, dass es noch mehr gibt. Julie ist jetzt die zweite.«
»Was hast du getan?«, fragt Vater Julian.
»Kanntest du sie?«
»Was hast du getan?«, wiederholt Vater Julian.
»Du hast sie wahrscheinlich nie
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