Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
lang?«
»Da.«
Ich führe ihn ins Treppenhaus. Es ist kalt, und unsere Schritte hallen von den Wänden wider; bis zum vierten Stock schaffen wir immer zwei Stufen auf einmal, dann nur noch eine. Als wir den achten Stock erreichen, sind wir beide ziemlich außer Atem. Im Flur ist niemand zu sehen. Links und rechts stehen Topfpflanzen mit saftigen, grünen Blättern, kein einziges davon braun, und an den Wänden hängen Ölgemälde, die nichts weiter darstellen als Farben und Formen, die auf ansprechende Weise miteinander kombiniert wurden.
Schließlich erreichen wir mein Büro. Ich trete ein. Bruce greift hinter sich und schließt die Tür.
»Setzen Sie sich, und lassen Sie Ihre Hände auf dem Tisch«, sagt er.
Ich befolge seine Anweisungen und lege meine Handflächen links und rechts neben die Uhr, die ich der Leiche abgenommen habe. Bruce setzt sich auf die andere Seite des Tisches, als wäre er ein Klient.
»Was wissen Sie?«, fragt er.
»Wovon?«
»Schluss damit«, sagt er und schlägt mit der Hand gegen die Seite des Stuhls, während er mit der anderen weiter die Pistole umklammert. Ganz ruhig ist er jetzt, seine Nervosität wie weggeblasen. Als hätte der Abstand zum Friedhof einen neuen Menschen aus ihm gemacht. Als hätten sich in den letzten fünfzehn Minuten all die Verwirrung, die Angst und die Schuldgefühle irgendwie zusammengetan und ihm gesagt, was als Nächstes zu tun ist.
»Okay, ich weiß Folgendes«, sage ich. »Als Ihnen klar war, dass es Henry Martins ist, den wir da ausgraben, wurden Sie nervös. Trotzdem sind Sie in der Nähe geblieben; als allerdings die Leichen an die Wasseroberfläche trieben, haben Sie sich abgesetzt. Und dann kam es, wie es kommen musste. Es war unvermeidlich. Vorhin im Auto waren Sie überrascht, dass ich den Namen des Mädchens kannte. Rachel Tyler. Sie haben gefragt, ob ich Sie für den Mörder der Mädchen halte. Nicht der anderen Leute, sondern der Mädchen. Sie wissen also bereits, dass sich in den entsprechenden anderen Särgen Frauen befinden. Das können Sie nur wissen, wenn Sie sie selber dort reingelegt haben.«
Er antwortet nicht. Sondern starrt mich bloß an, mit zitternder Hand und nervösem Blick, während er die verschiedenen Alternativen durchrattert. Ich hoffe, dass er nicht immer wieder bei der Möglichkeit landet, den Abzug zu drücken. Vielleicht hat er das die ganze Zeit vorgehabt, seit er in meinen Wagen gestiegen ist. Er nimmt seine freie Hand hoch, um damit die Pistole zu stabilisieren.
»Was wollen Sie von mir, Bruce?« Ich lehne mich zurück und strecke dabei die Arme aus, allerdings so, dass meine Hände nach wie vor den Tisch berühren. »Sagen Sie’s mir einfach.«
»Ich brauch eine Zigarette«, sagt er und greift in seine Tasche.
»Hier drin wird nicht geraucht«, sage ich, und als er seine Hand aus der Tasche zieht, ist sie leer. Er beschwert sich nicht.
»Ich habe in meinem ganzen Leben niemanden getötet«, sagt er, nachdem er ein paar Sekunden auf seine bebenden Hände gestarrt hat. »Ich weiß, Sie denken was anderes, doch das ist die Wahrheit. Ich habe Beweise. Unter meinem Bett. Ich kann Sie hinbringen. Sie können mit meinem Vater sprechen. Er kennt die Wahrheit.«
»Aha.«
»Aber Sie wollen nicht mit mir hinfahren, stimmt’s?«
»Nein.«
»Sie glauben mir kein Wort, was?«
»Warum erzählen Sie mir nicht erst mal ein paar Einzelheiten?«
»Das hat keinen Zweck. Sie würden mir niemals glauben. Das war mir von Anfang an klar.«
»Warum haben Sie mich dann hierhergebracht? Wozu der ganze Aufwand?«
»Mit ihrem Tod habe ich nichts zu tun. Nichts. Aber ich habe sie begraben – ich musste. Die Mädchen hatten das doch verdient. Und jetzt«, sagt er, »jetzt lassen ihre Geister mich in Ruhe, und Sie, Sie werden mich endlich ernst nehmen.« Mein Herz rast, als er die Pistole umdreht und sich den Lauf unters Kinn drückt. Das ist fast genauso schlimm, als würde er sie weiter auf mich richten.
»Halt, halt«, sage ich; instinktiv will ich die Hände ausstrecken, um ihn zu bremsen, doch ich lasse sie auf dem Tisch. »Hören Sie mir zu, Bruce, hören Sie.«
Für einen Moment nimmt er die Pistole ein wenig herunter und mustert mich, als wäre ich ein Idiot. Lange genug, um mir einzubilden, dass keiner von uns beiden hier sterben muss.
»Warum haben Sie die Leichen aus den Gräbern entfernt? Was haben diese Mädchen verdient?«
Für einen Augenblick macht er einen verwirrten Eindruck, als könnte er nicht die
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