Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
macht ihn noch gefährlicher. Sprich: Er hat vielleicht vor, auf mich zu schießen.
Seine Hände zittern nach wie vor, und mit jeder Vibration hebt und senkt sich die Pistole.
»Sie müssen doch irgendwas von mir wollen«, sage ich. »Vielleicht wollen Sie mir irgendwas mitteilen. Ja? Dass Sie nichts mit dem toten Mädchen zu tun haben, das wir gefunden haben?«
»Warum haben Sie mit meinem V-V-Vater g-gesprochen?«
»Ich habe nach Ihnen gesucht.«
»Das ist alles Ihre Sch-Schuld«, sagt Bruce. »Wenn Sie nicht gewesen wären, w-w-wäre alles bestens. Alles bestens.«
Nein, wäre es nicht. Für Rachel Tyler ist es das schon seit einiger Zeit nicht mehr.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Was hat mein Vater Ihnen erzählt?«
»Ihr Vater ist ein richtig umgänglicher Typ. Er hatte jede Menge zu erzählen.«
Er lässt sich in den Sitz fallen, aber die Pistole bleibt nach wie vor auf mich gerichtet.
»Glauben Sie, dass ich diese Mädchen g-g-getötet habe?«
Ich antworte nicht. Stattdessen blicke ich hinüber zu Sidney Aldermans Haus und frage mich, was er gerade tut. Vielleicht wusste Sidney, dass sein Sohn hier auf mich wartet, und hat mir was vorgespielt; sein persönlicher kleiner Auftritt, um mich in die Irre zu führen. Möglicherweise wusste er aber auch nichts davon. Schließlich konnten sie nicht damit rechnen, dass ich hier auftauche. Bruce muss die ganze Zeit hier gewesen oder mir von der Kirche aus gefolgt sein.
»Bitte, S-Sie … Sie müssen von hier wegfahren.«
Ich drehe mich zu ihm um und starre auf den Lauf der Pistole. »Fahren? Wohin?«
»Ich weiß … ich weiß nicht.«
»Ich bin kein Taxiunternehmen. Ich werde Sie nirgends hinbringen, wo Sie mich unbemerkt umbringen können. Wenn Sie das vorhaben, dann tun Sie es hier, vielleicht kann Ihnen Ihr alter Herr ja dabei helfen, meine Leiche zu entsorgen. Oder Sie haben Schwein, und die Cops hören den Schuss. Die sind nämlich ganz in der Nähe.«
»Ist es das, w-was Sie wollen?«, fragt er und schiebt die Pistole noch ein Stück weiter vor. »Sie trauen mir das wohl n-nicht zu, was? Glauben Sie etwa, ich hätte noch was zu verlieren?«
»Ich glaube nicht, dass das Ihr Plan ist«, sage ich und versuche ruhig dabei zu klingen, »und ich glaube nicht, dass Sie abdrücken. Sonst hätten Sie das längst getan. Sie wollen mir etwas erzählen. Vielleicht wollen Sie ein Geständnis ablegen. Vielleicht wollen Sie mir alles erzählen, bevor Sie mir eine Kugel in die Brust jagen.« Seine Hände zittern jetzt noch stärker. Wenn er weiter so schlottert, klatscht mein Hirn vermutlich gleich gegen die Windschutzscheibe. »Aber Sie wollen nicht, dass es hier passiert.«
»Vielleicht irren Sie sich.«
Ich denke an meine Frau. Wenn ich mich irre, werde ich sie nicht wiedersehen. Wenn ich mich irre – und Glück habe -, sehe ich meine Tochter wieder. Nur dass ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaube. Ich denke an Bridget, die bereits allein ist und es dann erst recht wäre. Sie würde allerdings bloß aus dem Fenster starren, während die Zeitungen und das Fernsehen über meinen Tod berichten, sie würde den Verlust überhaupt nicht spüren.
»Wo wollen Sie also hinfahren?«
»Einfach weg von hier. S-sofort.«
Ich schaffe es, meine Augen vom Lauf zu seinem bleichen Gesicht wandern zu lassen. Im Gegensatz zu heute Nachmittag sind seine Gesichtszüge in sich zusammengefallen, als würde die Blase aus Paranoia, die sie in Form gehalten hat, sich nach und nach auflösen. Unfähig, sich länger als einen Sekundenbruchteil auf etwas zu konzentrieren, huscht sein Blick nervös hin und her, als wäre er auf Droge. Mehrere Schweißperlen drohen ihm in die geröteten Augen zu kullern. Und hinter ihm, weiter die Straße hoch, werden Tote in den Särgen anderer Toter gefunden. Ich blicke wieder auf die Pistole, dann in seine Augen. Hin und her, hin und her, sie halten nach irgendetwas Ausschau – ob nach Hilfe oder nach den Dämonen, die ihn sein ganzes Leben verfolgt haben, wer weiß? Vielleicht hält er Ausschau nach seinem Friedhofswärter-Vater, damit der für Ruhe und Frieden sorgt.
»Bitte«, wiederholt er, mehr flehend als fordernd.
Ich drehe mich um, doch es fällt mir schwer, nach vorne zu blicken, da die Pistole mit ihrem Gewicht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich wende den Wagen und frage mich, ob der alte Mann uns von seinen dreckverschmierten Fenstern aus beobachtet, falls er durch sie überhaupt etwas erkennen kann. Im Rückspiegel, im
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