Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
ausschütte.«
Er setzt sich auf, und ich reiche ihm den Becher.
»Was zum Henker willst du von mir?«
»Mit dir über Rachel reden.«
»Lass mich raten – ihre Mum hat dich hergeschickt, stimmt’s? Sie glaubt immer noch, dass ich sie umgebracht habe.«
»Ich arbeite für Rachel, nicht für ihre Mutter. Hast du sie getötet?«
»Leck mich, Mann. Und verschwinde verdammt noch mal aus meinem Zimmer.«
»Ich habe ihre Leiche gefunden.«
Er richtet sich noch weiter auf und hält dabei den Becher fest umklammert. »Sie ist tot?«
Es ist eine so einfache Frage. Und er zeigt dabei keinerlei Emotionen, er macht lediglich ein völlig überraschtes Gesicht, den Mund etwas geöffnet, die Augen leicht geweitet. Keine Tränen, weder Wut noch Enttäuschung. Er akzeptiert es einfach. Akzeptiert die Frage, die er sich immer wieder gestellt hat – das große »Was wäre, wenn«. Und schließlich die Antwort. Was ist, wenn sie noch lebt? Was, wenn nicht?
»Sie wurde gestern gefunden.«
»Bist du sicher?«
Ich reiche ihm den Ring. Und er stellt den Kaffee auf den Boden, um ihn sich anzusehen. Er dreht ihn um und liest die Inschrift. Dann lässt er ihn auf seine Fingerspitze gleiten und spielt damit herum.
»Den hat sie von mir gekriegt«, sagt er. »Kurz bevor sie verschwunden ist. Ich hab ihr versprochen, dass wir nach unserem Abschluss von hier abhauen und nie wieder zurückkommen.«
»Sie hat diesen Ort gehasst? Warum?«
»Ich glaube nicht, dass sie ihn wirklich gehasst hat. Aber das ist wohl typisch für diese Stadt, was? Man kann sie gleichzeitig lieben und hassen. Ich glaube, sie fand es hier einfach nur zu eng, weißt du? Sie wollte den Rest der Welt sehen, und ich wollte ihn ihr zeigen. Wo habt ihr sie gefunden?«
»Sie war auf dem Friedhof vergraben.«
»Was?«
»Sie lag in einem fremden Sarg.«
»Da komm ich nicht ganz mit. Man hat sie vergraben?«
Und jetzt zeigt er Gefühle. Seine Hände zittern ein wenig, und seine Augen füllen sich mit Tränen, so wie ich es Dutzende Male bei Leuten beobachtet habe, die einen geliebten Menschen verloren haben.
»Wir mussten eine Leiche exhumieren«, sage ich. »Doch anstelle der Person, die wir eigentlich ausgraben wollten, lag Rachel im Sarg.«
»Wen habt ihr ausgegraben?«
»Einen Typen mit dem Namen Henry Martins. Schon mal gehört?«
Er schüttelt den Kopf. »Sollte ich?«
»Er war Bankdirektor. Bist du sicher, dass du seinen Namen noch nie gehört hast?«
»Seh ich aus, als würde ich einen Bankdirektor brauchen? Wie ist sie gestorben? Wurde sie lebendig begraben? Mein Gott, sag, dass das nicht wahr ist.«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Du bist dir nicht sicher ? Hast du sie gesehen?«
»Ja.«
»Wie sah sie aus?«
»Sie trug immer noch den Ring«, sage ich, was nicht ganz stimmt.
»Wie sah sie aus?«, wiederholt er.
»Sie ist seit zwei Jahren tot, David. So sah sie aus.«
Er fährt sich mit beiden Händen durchs Haar. »Mein Gott«, sagt er. »Das ist nicht richtig.« Er schlägt die Bettdecke zurück. Er trägt Boxershorts, und seine Haut ist käseweiß. Er zieht eine Jeans über.
»Das ist es nie. Erzähl mir, was passiert ist.«
»Was?«
»Erzähl mir, was passiert ist, als du sie das letzte Mal getroffen hast.«
»Nichts ist passiert. Es war wie immer. Ich kann mich nicht mal daran erinnern.«
»Sicher kannst du das. Jeder erinnert sich an die letzten Momente.«
Es stellt sich heraus, dass Davids letzter Moment wie jeder andere war. Sie haben zusammen zu Abend gegessen, Fastfood, und dabei gelernt. Danach sind sie zusammen ins Bett gegangen; damals, sagt er, sei das Haus allerdings noch sauberer gewesen. Am Morgen sind sie dann gemeinsam aufgestanden; er hat sich auf den Weg zum Seminar gemacht, und sie ging frühstücken. Eine völlig alltägliche Situation, die er die letzten zwei Jahre wahrscheinlich immer wieder abgespult hat. Er hat bestimmt über die Umstände nachgedacht, die zu ihrem Verschwinden geführt haben. Was, wenn er geschwänzt hätte? Wenn das Seminar zu einer anderen Uhrzeit begonnen hätte? Oder ihres. Was, wenn sie zusammen gefrühstückt oder am Vorabend jeder für sich gegessen hätte? Wäre nur ein Glied in der Kette anders gewesen, wären sie immer noch zusammen.
Sicher, vielleicht wären sie inzwischen auseinander, oder er hätte sie geschwängert und sich aus der Verantwortung gestohlen, oder sie hätte ihn betrogen. Junge Liebe kann auf die eine oder andere Weise zu Ende gehen. Aber so hätte sie nie enden
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