Die Toten schweigen nicht: Thriller (German Edition)
lassen. Und ihn heute Morgen auch nicht weggefahren. Stattdessen wartet er mit seiner Frau im Haus auf Neuigkeiten. Von seiner toten Tochter.
Ich überprüfe mein Telefon. Auf der Akkuanzeige ist ein Balken zu erkennen, auf der für den Empfang sind es drei; allerdings habe ich immer noch kein Netz.
Die Tür öffnet sich, bevor ich sie erreiche. Patricia Tyler trägt dieselben Sachen wie gestern. Wahrscheinlich hat sie darin geschlafen. Oder sie hat gar nicht geschlafen.
»Jetzt ist Bewegung in die Sache gekommen, nicht wahr?«, sagt sie.
»Ja.«
»Heute erfahren wir die Wahrheit, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wussten Sie das gestern auch schon? Als sie bei mir waren. Wussten Sie da schon, dass meine Tochter tot ist?«
»Ich hab’s befürchtet.«
»Trotzdem haben Sie nichts gesagt.«
»Tut mir leid.«
»Es tut Ihnen leid«, sagt sie; ihre Stimme klingt ruhig und gleichmäßig, ja müde. »Man hat uns vor fünfzehn Minuten angerufen. Und auch wenn sie nichts gesagt haben, wusste ich Bescheid. Sie sind unterwegs, um mit uns zu sprechen.«
Es gibt nichts, was ich tun könnte, um sie aufzumuntern. Ich warte ab, denn sie ist noch nicht fertig.
»Es tut Ihnen leid, und trotzdem sind Sie hier. Sie haben mir weisgemacht, dass meine Tochter noch am Leben ist.«
Gar nichts habe ich ihr weisgemacht. Ich hätte mit der Hand ihrer Tochter und dem Ring in einem Plastikbeutel bei ihr aufkreuzen können, und sie hätte sich trotzdem noch an ihre Hoffnung geklammert. Ich glaube, dass sie das immer noch tut.
»Kann ich reinkommen?«
»Ich glaub nicht.«
»Letzte Nacht hat sich in meinem Büro ein Mann erschossen«, sage ich. »Er hat sich eine Pistole an den Kopf gehalten und behauptet, dass er mit dem, was man Rachel angetan hat, nichts zu tun hat, dann hat er abgedrückt.«
Sie wirkt überhaupt nicht schockiert. Oder zufrieden. Sondern einfach nur müde, als wäre ihr heute das kleinste bisschen schon zu viel. »Ich habe Sie in den Nachrichten gesehen«, sagt sie. »Sie haben keinen besonders guten Eindruck hinterlassen. Glauben Sie, dass er Rachel getötet hat?«
»Vielleicht hat er gelogen. Für das, was man Rachel angetan hat, gibt es keine Gerechtigkeit, doch das kommt dem noch am nächsten. Sollte er allerdings die Wahrheit gesagt haben, dann läuft irgendwo dort draußen immer noch jemand herum, der dafür büßen muss. Darum bin ich hier. Wegen Rachel.«
»Wegen Rachel«, wiederholt sie mit tonloser Stimme, und ich hab keine Ahnung, warum. »Diese Reporterin«, fährt sie fort. »Sie hat gesagt, dass Ihre Tochter getötet wurde. Sie wissen also, wie das ist. Und vielleicht bringt Sie der Schmerz, der uns verbindet, weiter als die Polizei. Vielleicht setzen Sie sich dadurch stärker für Rachel ein.«
Sie führt mich durch den Flur ins Wohnzimmer. Ihr Mann, ein übergewichtiger Typ mit grauen Haaren und dunklen Augenringen, erhebt sich vom Sofa und will mir die Hand schütteln, dann zieht er sie wieder zurück, als ob die Berührung den bevorstehenden Neuigkeiten schaden könnte.
»Sind Sie derjenige, der sie gefunden hat?«, fragt er.
»Ja.«
»Wie …« Er senkt den Blick und betrachtet für einen Moment ratsuchend den Teppich, bevor er fortfährt. »Wie hat sie ausgesehen?«
Dieselbe Frage hat auch ihr Freund gestellt. Sie wollen hören, dass sie friedlich und noch ganz gut aussieht für ein Mädchen, das vor zwei Jahren ermordet wurde. Doch das stimmt nicht. Sie wirkt, als hätte sie leiden müssen.
»Als würde sie schlafen«, sage ich, in der Hoffnung, dass sie mir meine Lüge abnehmen, und dass die Detectives, sollten die beiden Rachel noch einmal besuchen wollen, dies nicht zulassen.
»Ich kann kaum glauben, dass sie wirklich tot ist«, sagt er und schaut wieder hoch. Das Gesicht wie versteinert, ohne jede Hoffnung. Nur seine Augen starren mich so eindringlich an, dass ich zur Seite blicken muss. »Eigentlich müsste uns das jetzt leichter fallen«, fügt er hinzu. »Man sollte meinen, dass wir zwei Jahre Zeit hatten, uns darauf vorzubereiten.«
Er weiß wahrscheinlich auf den Tag genau, wie lange es her ist. Ich denke an meine Frau und an meine Tochter und überlege, worauf mich die letzten zwei Jahre vorbereitet haben. Nachdem das Schicksal zugeschlagen hatte, die Familie der Tylers zerstörte und eine Woche später die meine.
»Man sagt, dass die Zeit alle Wunden heilt«, fährt er fort. »Man sagt, das Leben geht weiter. Als sollten wir Rachel völlig vergessen. Und aufhören, Fragen zu
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