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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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Und alle waren mit ihm derselben Ansicht, hier treffe das Sprichwort zu, daß man von einem Ochsen keine Milch bekomme, und wenn man sich auch noch so lange mit ihm herumquäle. So befanden sich denn die Beamten in noch üblerer Lage als vorher, und das Schlußresultat war, daß sie absolut nicht herausbekommen konnten, wer Tschitschikow eigentlich sei. Und es stellte sich dabei deutlich heraus, was für eine Art von Wesen der Mensch ist: er ist weise, klug und verständig in allem, was andere Leute betrifft und nicht ihn selbst. Mit was für umsichtigen, energischen Ratschlägen versieht er andere in schweren Lebenslagen! »So ein gescheiter Kopf!« ruft die Menge, »was für ein unerschütterlicher Charakter!« Aber wenn über diesen gescheiten Kopf irgendein Unglück hereinbricht und er selbst in eine schwere Lebenslage gerät, wo bleibt da sein fester Charakter? Der unerschütterliche Mann ist ganz fassungslos und ist zu einem kläglichen Feigling, zu einem hilflosen, schwachen Kinde geworden oder einfach zu einem Waschlappen, wie sich Nosdrew ausdrückte.
    Alle diese Redereien, Meinungen und Gerüchte wirkten aus unbekanntem Grunde am allermeisten auf den armen Staatsanwalt. Sie wirkten auf ihn in dem Grade, daß er, als er nach Hause gekommen war, nachdachte und nachdachte und auf einmal, wie man zu sagen pflegt, aus heiler Haut starb. Ob ihn nun der Schlag getroffen hatte oder ihm etwas anderes zugestoßen war, genug, so wie er dasaß, fiel er rücklings vom Stuhle herunter. Die Anwesenden schrien, wie das so zu geschehen pflegt, auf, schlugen die Hände zusammen, riefen: »O du mein Gott!« und ließen einen Arzt holen, um ihn zur Ader zu lassen, mußten aber dann einsehen, daß der Staatsanwalt bereits ein entseelter Körper war. Erst da erfuhren sie mit Bedauern, daß der Verstorbene wirklich eine Seele gehabt habe, obgleich er sie aus Bescheidenheit nie hatte sichtbar werden lassen. Trotzdem aber war die Erscheinung des Todes bei einem kleinen Menschen ebenso furchtbar, wie sie es bei einem großen Menschen ist: er, der noch vor kurzem umhergegangen war, sich bewegt hatte, Whist gespielt, allerlei Papiere unterschrieben hatte und so oft unter den Beamten mit seinen dichten Augenbrauen und dem blinzelnden Auge zu sehen gewesen war, der lag jetzt auf dem Tische; das linke Auge blinzelte nicht mehr; aber die eine Braue war immer noch mit einer Art von fragendem Ausdruck ein wenig in die Höhe gezogen. Wonach der Verstorbene hatte fragen wollen, ob nach dem Grunde seines Todes oder nach dem Grunde seines Lebens, das weiß nur Gott allein.
    »Aber das ist doch ungeheuerlich, das ist ganz unglaublich, das ist unmöglich, daß die Beamten sich so geängstigt, solchen Unsinn geschwatzt und sich so weit von der Wahrheit entfernt haben sollten, wo doch selbst ein Kind sehen mußte, um was es sich handelte!« So werden viele Leser sagen und den Verfasser der Absurdität beschuldigen oder die armen Beamten Narren nennen, da ja der Mensch mit dem Worte Narr freigebig ist und zwanzigmal am Tage bereit ist, seinen Nächsten damit zu traktieren. Man braucht nur unter zehn Seiten eine törichte zu besitzen, um trotz der neun guten ein Narr genannt zu werden. Die Leser haben gut richten: sie schauen aus ihrem ruhigen Eckchen heraus und von ihrem hohen Standpunkte herab, von wo sich ihnen ein Ausblick auf alles erschließt, was da unten vorgeht, wo der Mensch nur den nächsten Gegenstand sieht. Und in der Universalgeschichte der Menschheit gibt es ganze Jahrhunderte, die man, wie es scheint, als unnötig ausstreichen und tilgen möchte. Viele Irrtümer sind in der Welt begangen worden, die, wie es scheint, jetzt nicht einmal ein Kind begehen würde. Was für krumme, verwachsene, enge, ungangbare, weit abführende Wege hat sich die Menschheit in dem Streben, zu der ewigen Wahrheit zu gelangen, ausgesucht, während ihr der gerade Weg ganz offen vor Augen lag, vergleichbar dem Wege, welcher zu dem prächtigen Palaste führt, der dem Könige als Wohnung dient. Breiter und herrlicher als alle anderen ist dieser Weg, von der Sonne bestrahlt und die ganze Nacht über von Fackeln beleuchtet; aber doch wanderten die Menschen an ihm vorbei in dunkler Finsternis. Und wie oft brachten sie, nachdem die vom Himmel herabgestiegene Vernunft sie auf die rechte Bahn geleitet hatte, es trotzdem fertig, wieder von ihr abzukommen und zur Seite abzuirren, am hellen Tage von neuem in unwegsame Wüsten zu geraten, sich gegenseitig einen

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