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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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»Sohn des Vaterlandes« wurden unbarmherzig zerlesen und gelangten an den letzten Leser in Gestalt von Fetzen, die zu keinem Gebrauche mehr verwendbar waren. Statt der Fragen: »Wie teuer haben Sie den Scheffel Hafer verkauft, Väterchen? Wie haben Sie den gestrigen Spurschnee ausgenutzt?« sagten sie: »Was schreiben die Zeitungen? Hat man auch nicht wieder Napoleon aus seinem Gefängnisse herausgelassen?« Die Kaufleute fürchteten dies ganz besonders, denn sie glaubten fest an die Weissagung eines Propheten, der schon seit drei Jahren im Gefängnis saß. Der Prophet war gekommen, man wußte nicht woher, in Bastschuhen und in einem unüberzogenen Pelze, der schrecklich nach verfaulten Fischen roch, und hatte verkündet, Napoleon sei der Antichrist und liege an einer steinernen Kette hinter sechs Mauern und sieben Meeren; aber später werde er die Kette zerreißen und sich der Herrschaft über die ganze Welt bemächtigen. Der Prophet war, wie es sich gehörte, für seine Prophezeiung ins Gefängnis gesetzt worden; aber nichtsdestoweniger hatte er seine Wirkung getan und den Kaufleuten völlig den Kopf verdreht. Noch lange, sogar zur Zeit der gewinnbringendsten Geschäfte, redeten die Kaufleute, wenn sie nach dem Restaurant gekommen waren, um da ihren Tee zu trinken, vom Antichrist. Viele Beamte und vornehme Adlige dachten ebenfalls darüber nach, und von dem Mystizismus angesteckt, der bekanntlich damals sehr Mode war, sahen sie in jedem der Buchstaben, aus denen das Wort Napoleon besteht, einen besonderen Sinn; viele entdeckten in diesem Namen sogar die Zahlen aus der Offenbarung St. Johannis. Daher ist es nicht weiter wunderbar, daß die Beamten sich über diesen Punkt unwillkürlich ihre Gedanken machten; bald jedoch kamen sie zur Besinnung und merkten, daß ihre Phantasie schon allzu arge Sprünge machte, und daß das alles Torheit sei. Sie dachten und dachten, redeten und redeten und kamen endlich zu dem Resultate, daß es das beste sein würde, Nosdrew recht genau zu befragen. Da er der erste gewesen war, der die Geschichte von den toten Seelen vorgebracht hatte, und da er, wie es hieß, in nahen Beziehungen zu Tschitschikow stand, folglich ohne Zweifel etwas über seine Lebensverhältnisse wußte, so wollte man probieren, was er sagen werde.
    Wunderliche Leute, diese Herren Beamten und mit ihnen auch alle anderen Stände: sie wußten ganz genau, daß Nosdrew ein Lügner war und man ihm kein Wort glauben konnte, auch nicht bei der unbedeutendsten Bagatelle; und doch nahmen sie zu ihm ihre Zuflucht. Da soll man aus dem Menschen klug werden! Er glaubt nicht an Gott; aber er glaubt, daß, wenn ihm der Nasenrücken juckt, er unfehlbar sterben wird; er schätzt die Schöpfung eines Dichters gering, die klar und hell wie der Tag und ganz von schöner Harmonie und hoher, schlichter Weisheit durchtränkt ist, und stürzt sich auf ein Machwerk, wo ein dreister Geselle die Natur entstellt und verrenkt; das gefällt ihm, und er ruft: »Da! Das ist wahre Kenntnis der Geheimnisse des Menschenherzens!« Sein ganzes Leben lang hat er auf die Ärzte geschimpft, und das Ende vom Liede ist, daß er sich an ein altes Weib wendet, das mit Besprechen und mit Spucke kuriert, oder wohl gar sich selbst ein Dekokt aus wer weiß was für Zeug ausdenkt, von dem er sich, Gott weiß warum, einbildet, daß es gegen seine Krankheit helfen werde. Allerdings kann man die Herren Beamten teilweise mit ihrer wirklich schwierigen Lage entschuldigen. Der Ertrinkende, sagt man, greift auch nach einem Strohhalm, und es ist ihm in dem Augenblicke nicht möglich zu überlegen, daß auf einem Strohhalm allenfalls eine Fliege eine Spazierfahrt machen kann, er selbst aber ein Gewicht von vier, wenn nicht von ganzen fünf Pud hat; aber dieser Erwägung ist er in dem Augenblicke nicht fähig, und er greift nach dem Strohhalm. So griffen auch unsere Herren schließlich nach Nosdrew. Der Polizeimeister schrieb sofort an ihn ein Billett, in welchem er ihn zum Abend einlud, und ein Polizeikommissar in hohen Stiefeln, mit hübschen, roten Backen lief sofort, den Degen in der Hand haltend, spornstreichs nach Nosdrews Wohnung. Nosdrew war von einer wichtigen Beschäftigung in Anspruch genommen; schon ganze vier Tage lang war er nicht aus dem Zimmer gekommen, hatte niemanden hereingelassen und sich sogar das Mittagessen durch ein Fenster hereinreichen lassen; er war sogar mager geworden und hatte eine grünliche Farbe bekommen. Die Arbeit erforderte die größte

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