Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
möchten etwas leiser lärmen.
Zwei Stunden vor dem Mittagessen begab er sich in sein Arbeitszimmer, um sich ernstlich mit der Abfassung eines großen Werkes zu beschäftigen, das ganz Rußland von allen möglichen Gesichtspunkten aus, vom nationalökonomischen, politischen, religiösen, philosophischen, umfassen, den Weg zur Lösung der schwierigen Aufgaben, die die Zeit diesem Lande stellte, zeigen und klar darlegen sollte, welch eine große Zukunft seiner warte; kurz, es war ein Thema, wie es sich der moderne Mensch gern stellt. Übrigens beschränkte er sich bei diesem riesenhaften Unternehmen meistens auf bloßes Nachdenken: er zerkaute eine Feder, malte auf dem Papier, schob dann all dies beiseite und nahm statt dessen ein Buch zur Hand, das er dann bis zum Mittagessen nicht mehr weglegte. Dieses Buch las er während der Suppe, während des Bratens und sogar während der süßen Speise, so daß manche Gerichte kalt wurden und andere ganz unangerührt blieben. Darauf trank er Kaffee, rauchte eine Pfeife und spielte Schach mit sich selbst. Was er aber dann bis zum Abendessen tat, das ist wirklich schwer zu sagen. Wie es scheint, tat er einfach nichts.
So verbrachte dieser junge dreiunddreißigjährige Mensch seine Zeit, indem er ganz allein, im Schlafrock und ohne Krawatte, zu Hause hockte. Zum Spazierengehen oder überhaupt zum Gehen hatte er keine Lust; er mochte nicht einmal nach oben hinaufsteigen, nicht einmal das Fenster öffnen, um frische Luft ins Zimmer zu lassen, und der schöne Blick auf das Dorf, der jeden Besucher entzückte, war für den Gutsherrn selbst geradezu nicht vorhanden. Hieraus kann der Leser ersehen, daß Andrei Iwanowitsch Tentetnikow zu der Gattung derjenigen Leute gehörte, die in Rußland nicht aussterben, und die man früher Faulpelze, Tagediebe, Schlafmützen nannte; mit welchem Ausdruck ich sie jetzt bezeichnen soll, weiß ich wirklich nicht. Ob solche Charaktere geboren werden oder sich erst nachher als Produkt trauriger umgebender Umstände herausbilden? Statt diese Frage zu beantworten, wird es besser sein, die Geschichte seiner Kindheit und seiner Erziehung zu erzählen.
Alles schien zusammenzuwirken, um etwas Tüchtiges aus ihm zu machen. Als ein wohlbegabter, etwas träumerischer, etwas kränklicher Knabe kam er im Alter von zwölf Jahren in ein Erziehungsinstitut, dessen Direktor für jene Zeit ein ganz außerordentlicher Mensch war. Der von den anderen Erziehern bewunderte, von seinen Zöglingen abgöttisch verehrte, unvergleichliche Alexander Petrowitsch war mit einem überaus feinen psychologischen Verständnisse begabt. Wie gut kannte er die Eigenschaften des Russen! Wie gut kannte er die Kinder! Es gab keinen Schlingel, der, wenn er einen dummen Streich gemacht hatte, nicht von selbst zu ihm gegangen wäre und ihm alles gestanden hätte. Und nicht genug damit: der Schlingel erhielt eine strenge Strafe, aber er kam von seinem Direktor nicht mit gesenktem, sondern mit erhobenem Kopfe heraus. Eine innere Stimme schien ermutigend zu ihm zu sagen: »Vorwärts! Stelle dich schnell wieder auf die Füße, trotzdem du gefallen bist!« Er hielt ihnen niemals Reden über gutes Betragen. Er pflegte zu sagen: »Ich verlange Klugheit, weiter nichts. Wer danach strebt, klug zu werden, der hat zu unnützen Streichen keine Zeit; da verschwindet das unartige Wesen von selbst.« Und er hatte recht: das unartige Wesen verschwand wirklich von selbst. Wer nicht bestrebt war, klug zu werden, der verfiel der Verachtung seiner Kameraden. Die herangewachsenen Esel und Dummköpfe mußten sich von den Jüngsten die beleidigendsten Spitznamen gefallen lassen und wagten nicht, sie auch nur mit einem Finger anzurühren. »Das geht aber doch zu weit!« sagten viele. »Die klugen Knaben werden hochmütig werden.« – »Nein, das geht nicht zu weit«, erwiderte er, »die unfähigen behalte ich nicht lange, für die genügt ein einziger Kursus; aber für die gescheiten gibt es bei mir noch einen zweiten Kursus.« Und wirklich machten alle Begabten bei ihm noch einen zweiten Kursus durch. Viele Äußerungen des Mutwillens hemmte er nicht, da er in ihnen den Anfang einer Entwicklung seelischer Fähigkeiten sah, und sagte, diese Äußerungen des Mutwillens brauche er ebenso notwendig wie der Arzt den Ausschlag, um mit Sicherheit zu erkennen, was im Inneren des Menschen stecke.
Wie liebten ihn aber die Knaben auch! Nein, selbst den eigenen Eltern gegenüber ist eine solche Anhänglichkeit der Kinder
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