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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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An Alexander Petrowitschs Stelle trat ein gewisser Fjodor Iwanowitsch. Dieser legte gleich von vornherein den größten Nachdruck auf die äußere Ordnung; er verlangte von den Kindern, was man nur von Erwachsenen verlangen kann. In ihrer harmlosen Ungebundenheit sah er nur Ungezogenheit. Und als ob er es seinem Vorgänger zum Trotz täte, erklärte er gleich vom ersten Tage an, Verstand und Fortschritte seien für ihn bedeutungslos; er werde nur auf gutes Betragen sehen. Aber merkwürdigerweise konnte Fjodor Iwanowitsch gerade ein gutes Betragen nicht erzielen. Es riß die Gewohnheit ein, heimlich allerlei Schlechtigkeiten zu verüben. Bei Tage sah alles höchst ordnungsmäßig aus, und die Schüler gingen sittsam zu zweien und zweien; aber nachts wurden wüste Gelage veranstaltet.
    Auch mit dem Unterricht in den Wissenschaften begab sich etwas Seltsames. Es waren neue Lehrer berufen worden, mit neuen Anschauungen und neuen Grundsätzen. Sie überschütteten ihre Zuhörer mit einer Menge neuer Kunstausdrücke; sie zeigten bei ihrem Vortrage, daß sie logisch zu denken verstanden, daß sie den Fortschritten der Wissenschaft gefolgt waren, und daß sie selbst von einem gewissen Enthusiasmus erfüllt waren; aber trotzdem mangelte es ihrem Unterricht leider an dem rechten Leben. Die tote Wissenschaft bekam in ihrem Munde etwas Leichenhaftes. Kurz, alles ging verkehrt. Der Respekt vor der Schulobrigkeit schwand dahin; die Schüler machten sich über ihre Lehrer und Vorgesetzten lustig und nannten den Direktor mit häßlichen Spitznamen. Die Demoralisation trug einen Charakter, der ganz und gar nichts Kindliches mehr hatte, und es kamen Geschichten vor, die es nötig machten, eine ganze Anzahl von Schülern von der Anstalt auszuschließen und wegzujagen. In zwei Jahren war die Anstalt nicht mehr wiederzuerkennen.
    Andrei Iwanowitsch hatte ein stilles, gesetztes Wesen. Die nächtlichen Orgien seiner Kameraden, die den Fenstern der Direktorwohnung gerade gegenüber eine Wohnung für ein leichtfertiges Frauenzimmer gemietet hatten, konnten ihn nicht locken, und ebensowenig beteiligte er sich an ihren Religionsspöttereien, die nur dadurch veranlaßt waren, daß der Pope, der den Religionsunterricht erteilte, allerdings nicht gerade sehr klug war. Nein, seine Seele ahnte selbst in dem Schlummer, in dem sie lag, ihren himmlischen Ursprung. Er widerstand der Verführung, aber er ließ die Flügel hängen. Sein Ehrgeiz war bereits früher erweckt, fand nun aber keine Bahn zur Betätigung. Es wäre unter diesen Umständen besser gewesen, wenn er gar nicht erweckt worden wäre. Andrei Iwanowitsch hörte die Professoren sich auf den Kathedern ereifern und erinnerte sich dabei an seinen früheren Lehrer, der, ohne sich zu ereifern, verständlich zu reden gewußt hatte. Was hörte er nicht alles für Unterrichtsgegenstände! Medizin, Philosophie, Jura, Universalgeschichte, letztere in so gewaltigem Umfange, daß der Professor in drei Jahren glücklich gerade mit der Einleitung und mit der Darstellung der Entwickelung gewisser deutscher Städte fertig wurde – und Gott weiß, was er sonst noch alles hörte! Aber alles bildete in seinem Kopfe nur unförmliche Klumpen. Dank seinem natürlichen Verstande merkte er wohl, daß der Unterricht anders eingerichtet sein müsse; aber wie, das wußte er nicht. Und oft gedachte er seines früheren Lehrers Alexander Petrowitsch, und es wurde ihm so traurig zumute, daß er nicht wußte, wo er vor Kummer bleiben sollte.
    Aber das Glück der Jugend besteht darin, daß sie eine Zukunft hat. Je näher der Zeitpunkt des Abganges von der Anstalt heranrückte, um so stärker schlug sein Herz. Er sagte sich: »Dies ist ja noch nicht das Leben; dies ist erst die Vorbereitung zum Leben; das wahre Leben besteht im Staatsdienst: da kommen die großen Taten.« Und ohne sein schönes Heimatplätzchen wiedergesehen zu haben, das jeden fremden Besucher so überraschte und entzückte, und ohne am Grabe seiner Eltern gebetet zu haben, eilte er nach Art aller ehrgeizigen Leute nach Petersburg, wohin ja bekanntlich unsere feurige Jugend von allen Seiten Rußlands strebt, um da in den Staatsdienst zu treten, sich hervorzutun, Karriere zu machen oder auch ganz einfach, um sich den Firnis der farblosen, eiskalten, trügerischen gesellschaftlichen Bildung anzueignen. Andrei Iwanowitschs ehrgeiziges Streben erlitt gleich zu Anfang durch seinen Oheim, den Wirklichen Staatsrat Onufri Iwanowitsch, eine Abkühlung. Dieser

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