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Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Die toten Seelen: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolai Gogol
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und auf der anderen Seite wurde hinter den Bäumen ein Gitter sichtbar. Am Ende der Allee erschien ein Herr, der ihnen entgegenkam, auf dem Kopfe eine Mütze, in der Hand einen Knotenstock. Ein englischer Hund lief auf hohen, dünnen Beinen vor ihm her.
    »Da ist ja mein Bruder!« rief Platonow. »Kutscher, halt!« Er stieg aus dem Wagen, Tschitschikow ebenfalls. Die Hunde hatten einander schon begrüßt. Der dünnbeinige, behende Asor leckte mit seiner flinken Zunge Jarb über die Schnauze; dann leckte er Platonow die Hände; dann sprang er an Tschitschikow in die Höhe und leckte ihn am Ohr.
    Die Brüder umarmten sich.
    »Aber ich bitte dich, Platon, was machst du mir denn für Geschichten?« fragte stehenbleibend der Bruder, welcher Wasili hieß.
    »Wieso?« erwiderte Platon gleichmütig.
    »Ja, was soll denn das heißen?« Drei Tage lang läßt du nicht das geringste von dir hören! Der Reitknecht hat von Pjetuch deinen Hengst gebracht; er sagte, du wärest mit einem Herrn weggefahren. Hättest du mir doch wenigstens ein Wort sagen lassen, wohin, wozu, auf wie lange! Ich bitte dich, Bruder, was ist das für ein Benehmen! Ich habe mir in diesen Tagen Gott weiß was für Gedanken gemacht!«
    »Ich kann nichts dafür; ich habe es vergessen«, antwortete Platonow. »Wir haben einen Besuch bei Konstantin Fjodorowitsch gemacht; er läßt dich grüßen, und die Schwester ebenfalls. Pawel Iwanowitsch, ich stelle Ihnen meinen Bruder Wasili vor. Bruder Wasili, das ist Pawel Iwanowitsch Tschitschikow.«
    So aufgefordert, sich gegenseitig kennenzulernen, drückten beide einander die Hände, nahmen die Mützen ab und küßten sich.
    »Was mag dieser Tschitschikow für ein Mensch sein?« dachte Bruder Wasili. »Bruder Platonow ist in seinen Bekanntschaften nicht sehr wählerisch.« Er musterte Tschitschikow, soweit es der Anstand erlaubte, und sah, daß dieser äußerlich einen recht guten Eindruck machte.
    Tschitschikow musterte seinerseits Bruder Wasili ebenfalls, soweit es der Anstand erlaubte, und fand, daß der Bruder etwas kleiner war als Platon, dunkleres Haar und ein lange nicht so schönes Gesicht hatte, daß aber seine Züge viel mehr Lebhaftigkeit und größere Herzensgüte bekundeten. Es war offenbar, daß er nicht ein so schläfriges Wesen hatte. Aber auf diesen letzteren Punkt achtete Pawel Iwanowitsch wenig.
    »Ich habe mich entschlossen, Wasili, mit Pawel Iwanowitsch zusammen eine kleine Reise durch das heilige Rußland zu machen. Vielleicht vertreibt mir das die Hypochondrie.«
    »Wie geht es denn zu, daß du dich dazu so plötzlich entschlossen hast?« fragte Bruder Wasili höchst erstaunt und hätte beinah hinzugefügt: »Und da willst du noch dazu mit einem Menschen fahren, den du zum erstenmal siehst, und der vielleicht ein ganz geringwerter Geselle und Gott weiß was ist!« Mißtrauisch warf er Tschitschikow einen schrägen Blick zu; aber alles, was er an ihm sah, war so wohlanständig, daß es ihn in Erstaunen versetzte.
    Sie wendeten sich nach rechts und gingen durch das Tor. Der Hof war altertümlich und das Haus ebenfalls, von einer Art, wie man jetzt keine Häuser mehr baut: mit einem hohen, überall weit vorragenden Dache. Zwei riesige Linden wuchsen mitten auf dem Hofe und bedeckten fast die Hälfte desselben mit ihrem Schatten. Unter ihnen standen eine Menge hölzerner Bänke. Blühender Flieder und Faulbaum umgaben den Hof wie eine Perlenkette an der Einfassungsmauer entlang, die von den Blüten und Blättern dieser Sträucher und Bäume ganz verdeckt wurde. Das Herrenhaus war vollständig von den Linden versteckt; nur die Tür und die Fenster des Erdgeschosses schauten freundlich zwischen den Zweigen hindurch. Zwischen den Stämmen kerzengerader Waldbäume hindurch sah man die weiß angestrichenen Küchen, Vorratshäuser und Keller. Alles lag in einem Haine. Die Nachtigallen schmetterten laut und erfüllten den ganzen Hain mit ihrem Gesange. Unwillkürlich zog ein angenehmes Gefühl der Ruhe in die Seele ein. Alles erinnerte an jene sorglosen Zeiten, als alle Menschen still und friedlich lebten und alles schlicht und einfach zuging. Bruder Wasili lud Tschitschikow ein, Platz zu nehmen. Sie setzten sich auf die Bänke unter den Linden.
    Ein etwa siebzehnjähriger Bursche in einem hübschen, rosafarbenen, baumwollenen Hemde brachte eine Anzahl Karaffen mit verschiedenfarbigen Sorten von Fruchtsäften und stellte sie vor ihnen hin. Einige dieser Fruchtsäfte waren dick wie Öl, andere moussierten

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