Die Toten Vom Karst
die Trauerfeier, von der er rein gar nichts mehr bemerkte. Seine Konzentration war weg, und er hätte für immer so stehen bleiben können – im Halbdunkel am Rande einer Kirche, wo kaum jemand sie sehen konnte, und weit genug entfernt von der Vernunft, die draußen lauerte.
»Was machen Sie hier?« flüsterte er ihr ins Ohr.
»Ich habe Sie gesucht!«
»Woher wußten Sie, daß ich hier bin?«
»Von Ihrer Assistentin.«
»Gehen wir etwas trinken?«
»Wollten Sie nicht die Trauerfeier beobachten?«
»Was ich sehen wollte, habe ich gesehen, und es lohnte nicht einmal den Weg hierher. Außer, daß Sie gekommen sind.«
»Ich hätte Sie auch anderswo gefunden.«
»Also, gehen wir?«
Wohin bloß? schoß es ihm durch den Kopf. Sie hatten die Wahl zwischen dem trostlos zu Tode renovierten »Caffè Stella Polare« gleich gegenüber, der modernistisch gestalteten Uly-Bar hinter der Kirche, in der es zwar den besten Kaffee der Stadt, wenn nicht der ganzen Welt gab, wo aber die Gefahr zu groß war, daß wieder eine dieser Freundinnen Lauras als Spionin tätig war. Er führte Živa Ravno, deren Hand auf seinem Arm er noch immer in der seinen hielt, ein paar Schritte weiter auf die Piazza San Giovanni, wo der schwere, bronzene Giuseppe Verdi auf das Geschehen achtete. An der Ecke befand sich die »Gran Malabar«, in der es jetzt noch ruhig sein mußte, bevor wie jeden Freitag abend eine der weit über Triest hinaus berühmten Weindegustationen stattfand. Aber er hatte sich getäuscht. Als sie eintraten, schlug ihnen großes Gelächter entgegen, und Walter, der Wirt, stürmte auf Laurenti zu und wedelte mit der Titelseite der Zeitschrift »Panorama« vor seiner Nase.
»Schau dir das an, nicht zu fassen«, japste er – und war schon wieder verschwunden.
Laurenti hatte nicht einmal die Chance, Živa Ravno vorzustellen. »China ist ganz nah!!« lautete die Headline des offensichtlich gefälschten Titelblatts. »Die historische Drogerie Toso auf der Piazza San Giovanni in Triest ist in der Hand der Chinesen!!« Dazu eine Fotografie dieses Wahrzeichens des alten Triest, das noch immer so eingerichtet ist wie vor hundert Jahren und in dem sich manchmal noch Dinge finden, die der Gründer einst selbst einkaufte. Die Regale ziehen sich bis zur Decke hinauf, das Ölporträt des alten Toso wacht über die Geschäfte, und von der Rasierseife, die vom großen Stück abgeschnitten wird, bis zum Safran findet sich alles. Und das direkt neben Walters »Malabar«.
Als immer mehr der alten Triestiner panisch vom Ausverkauf der Stadt an die Chinesen sprachen, war Walter es leid und handelte. Zum wöchentlichen Ruhetag dekorierte er den Eingang der Drogerie mit roten Laternen und chinesischen Schriftzeichen um. Als am Morgen die alten Stammkundinnen über den Platz gingen, gab es einen Aufschrei. »Jetzt hat auch Toso an die Chinesen verkauft und uns nicht einmal gefragt! Na warte, dem werden wir sagen, was Sache ist!« Viele riefen ihn zu Hause an, und der jüngere Toso war überhaupt nicht glücklich, am freien Tag hinaus zu müssen und die Schilder zu entfernen. Seine Kundinnen dagegen waren zufrieden. Beim Espresso am Tresen der »Malabar« gaben sie sich davon überzeugt, daß Toso seine Meinung nur dank ihrer Anrufe und Beschimpfungen geändert hatte. Für sie blieb damit Triest wie es war. An der Piazza San Giovanni zumindest war die Welt wieder in Ordnung.
Das alles erzählte Walter seinem lachenden Publikum, während er für Proteo und seine Begleiterin ohne zu fragen zwei Gläser Rotwein über den Tresen schob.
»Typisch Walter«, sagte Laurenti. »Er ist im besten Sinn verrückt und Gott sei Dank besessen von guten Weinen.«
»Was trinken wir da?« fragte Živa Ravno, die kein Wort verstanden hatte.
Proteo tastete in die Jackentasche nach den Zigaretten. »Die dritte an diesem Tag«, sagte er stolz, während er ihr Feuer gab. Er sog den Rauch tief ein und stieß ihn in einer langen Wolke wieder aus. »Ich bin froh, Sie bei mir zu haben«, sagte er. »Ich muß mit dem alten Gubian sprechen. Können Sie mir helfen?«
»Das habe ich Ihnen doch gestern schon versprochen! Was wollen Sie von ihm?«
»Ich will ihn unter Druck setzen. Vielleicht ein nicht ganz sauberes Spiel. Wenn Sie mitmachen und wir ihm erzählen, daß ihn auch die kroatischen Behörden suchen, packt er vielleicht aus. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß er Marasi umgebracht hat, es würde mich aber wundern, wenn er wirklich nichts wüßte.
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