Die Toten Vom Karst
Straßenlaternen durch, das vom ruhigen Wasser der Baia reflektiert wurde. Er fischte eine Zigarette aus der Jackentasche und steckte sie an.
»Wir sind ganz schön verrückt«, lachte Živa und verschränkte endlich ihre Hände in seinem Nacken. »Jetzt mußt du mich wenigstens küssen. Nein, warte! Jetzt hat das auch keine Eile.« Sie strich ihm langsam den Hals entlang, durchfuhr das Haar an seinen Schläfen, während er mit seinen Händen an ihrem Körper emporfuhr und den Ansatz ihrer Brüste an den Rippen fühlte. Živa öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, dann die nächsten. Proteo streckte sich und legte den Kopf in den Nacken. Živa fuhr mit ihren Händen unter sein Hemd, und er spürte, wie sein Glied sich im Slip verklemmte und schmerzte. Živa drängte sich an ihn und zog seinen Kopf zu sich. Ihr Kuß schmeckte nach Kaffee und nach der Crème brulée, die sie zum Nachtisch gegessen hatten, und ein wenig nach dem istrischen Amaro, den Damir zweimal nachgeschenkt hatte. Proteo versank in ihr. Endlich spürte er wieder die Zärtlichkeit, ohne die er den ganzen Sommer hatte auskommen müssen. Und jetzt stand er in Cittanova in einem schäbigen Einzelzimmer eng umschlungen mit einer kroatischen Staatsanwältin, die er erst vor ein paar Tagen kennengelernt hatte, und schon mußte er sich fragen, ob seine Vorstellung von Treue und lebenslanger Liebe zu Laura ein Hirngespinst war. Aber war sie nicht wie Laura vor etwas mehr als zehn Jahren? Proteo Laurenti schob seine Hände unter ihren Pullover und spürte ihre glatte, warme Haut.
»Es ist kalt«, sagte sie. »Schließ das Fenster, bitte.«
Besorgt zog er ihren Pullover wieder herunter, küßte sie auf den Mund und ging zum Fenster.
»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Proteo, nachdem er das Fenster geschlossen hatte, und verfluchte sich innerlich, daß er ausgerechnet jetzt diesen Harndrang verspürte. »Ich bin gleich wieder da.«
Als er aus dem Bad kam, lag Živa im Bett und hatte die Bettdecke bis zum Hals hochgezogen. Proteo suchte mit einem raschen Blick nach ihren Kleidern und sah Pullover und Rock über der Stuhllehne. Es hätte ihm besser gefallen, wenn er sie ausgezogen, sie Stück um Stück ihrer Kleider entledigt hätte. Sollte er sich vor ihr ausziehen? Er war verlegen.
Živa lächelte ihn an, als sie seine Unbeholfenheit erkannte. »Komm!«
Er setzte sich auf den Bettrand und wollte sie wieder küssen. Doch Živa schlug die Decke zurück, und er konnte die Augen nicht von ihr lösen.
»Komm«, sagte sie nochmals.
Proteo stand auf und zog sein Hemd aus. Dann streifte er hastig seine Hose samt Socken und Schuhen ab. Sie schaute ihm neugierig zu und lachte, als er auf einem Bein das Gleichgewicht verlor.
Es war schon fast dunkel, als sie in der Stadt ankamen, die einst Emona, dann Emonia, später Neapolis hieß, und im Jahr 599 schließlich als Civitas Nova zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurde. Eine Stunde dauerte die Fahrt von Triest über die kurvigen Straßen und steilen Hügel Istriens, auf denen die alten italienischen Gemeinden erbaut waren, mit ihren hoch herausragenden Kirchtürmen, deren ausladende Spitzen sich auf einen quadratischen Turmkörper fügten, wie der Campanile von San Marco. Sie hatten am italienisch-slowenischen Grenzübergang Rabuiese im Auto rauchend gewartet und wenig miteinander gesprochen, bis die Beamten endlich meldeten, daß Nicoletta Marasi soeben ausgereist sei. Sie ließen zehn Autos Abstand und folgten ihr über die kurvige Strecke. Am kroatischen Zoll wurden sie rasch durchgewunken, als Živa Ravno ihren Dienstausweis zeigte, und wenig später reckte sich der Bergkegel von Buie vor ihnen über das Land. Was für ein hübsches Städtchen, das seit dem Exodus der Italiener noch immer halb verlassen dalag und freien Blick weit übers Land bis aufs Meer bot!
»Wußten Sie«, fragte Živa Ravno, »daß Buie einst ›Spia d’Istria‹ genannt wurde? Der Spion Istriens?«
»Ganz wie wir heute«, sagte Laurenti und bremste. Nicoletta war nach rechts abgebogen, die Wagen zwischen ihnen blieben auf der Hauptstrecke und er wollte den alten Abstand wahren. Nicoletta kannte schließlich seinen Wagen, seit er sie zu den Verließen der Gerichtsmedizin gebracht hatte. »Aber ich verstehe nicht, weshalb die Jugoslawen die Stadt nach der Auswanderung der Italiener nicht bezogen haben.«
»Was hätten sie hier tun sollen?« fragte Živa. »Die Eigentumsverhältnisse waren oft genug nicht geklärt.
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