Die Toten Vom Karst
Viele Italiener haben damals nicht verkauft. Dazu hatte man ihnen zu wenig angeboten. Oder die Alten blieben zurück, während die Jungen nach Westen gingen. Als sie starben, blieben die Häuser leer, aber im Familienbesitz. Außerdem wurde die Landwirtschaft bald kollektiviert. Das bot keinen Anreiz für andere, hier ein neues Leben aufzubauen. Die hatten ihre Äcker und ihr Eigentum, ihre Wurzeln meist woanders.«
»Schwierige Frage, ob das slawische oder italienische Erde ist«, sagte Laurenti.
Živa Ravno schaute ihn verwundert an. »Ich dachte, das sei geklärt.«
»So meinte ich es nicht. Aber schauen Sie sich die venezianische Architektur an. Die Kirchtürme, die byzantinischen Fassaden mancher Häuser und die Fensterbögen. Sie wissen, daß ich kein Revisionist bin.«
»Auch die Venezianer waren Invasoren, Proteo! Und die Römer waren hier auch schon am Werk. Aber deswegen war es noch lange nicht ihr Land.«
»Ach, hören Sie mir mit den Römern auf! Meine Tochter hat mir damit schon das Leben schwer gemacht. Ich frage mich oft, was Heimat überhaupt ist. Ich war froh, als ich aus Salerno wegkam, war glücklich, daß ich irgendwo anders meinen Weg machen konnte, meinen eigenen, und fühle mich in Triest zu Hause, obgleich auch ich ein Immigrant bin.«
»Immigrant?«
»Echte Triestiner gibt es doch nicht. Alles Zugewanderte. Von überall her. Ich eben aus dem Süden, ›aus Italien‹, wie manche heute noch sagen. Waren Sie schon einmal auf unseren Friedhöfen? Neben dem katholischen gibt es sechs weitere: British Cemetery, griechisch-orthodox, serbisch-orthodox, jüdisch, protestantisch und selbst die Moslems sind vertreten. Ich schäme mich nicht im geringsten, mich als Triestiner zu bezeichnen. Ganz im Gegensatz zu den Triestinern, die hier geboren sind und immer so tun, als sei es überall anders besser, aber doch nicht weggehen. Aber was mich interessiert, ist dieses nationale Zugehörigkeitsgefühl, das ich nicht verstehe. Die Slowenen in Triest, die seit Hunderten von Jahren hier leben und darauf bestehen, keine Italiener zu sein. Aber was sind sie denn sonst? Den italienischen Paß haben sie doch. Oder die Esuli! Italiener die aus Istrien nach Kanada gingen oder nach Australien oder Argentinien, dort ein neues Leben anfingen und es zu etwas brachten. Und noch immer heulen sie ihrem Istrien nach. Ich frage mich, ob es für sie überhaupt ein Zurück gäbe! Die haben sich überall anders besser sozialisiert als hier. Die Kinder, Enkel, Urenkel haben australische oder amerikanische Pässe und interessieren sich einen feuchten Dreck für diesen Zipfel Festland in der nördlichen Adria. Und dennoch gibt es diese Nostalgie, die ein Zusammenleben jenseits der ökonomischen Wirklichkeit schwierig macht. Živa, sagen Sie mir doch, was Sie fühlen? Sie haben in München gelebt, sind nicht in Cittanova aufgewachsen, von wo Ihre Familie stammt. Und dennoch kamen Sie zurück. Was ist das?«
»Ein Ideal, Proteo! Für mich ist das nichts anderes als ein Ideal. Ich weiß, daß ich keine Deutsche bin und keine Italienerin, auch keine Engländerin, obgleich ich all diese Sprachen gut spreche. Ich kann mir auch gut vorstellen, irgendwo anders zu leben. Ich wurde in Jugoslawien geboren und wurde 1991 Kroatin, ohne etwas dazu zu tun. Wie heißt es so schön: In diesem Landstrich weiß man nie, welchen Paß man morgen hat. Meine Eltern hatten zuerst den italienischen, meine Urgroßeltern sogar noch den österreichisch-ungarischen und mußten damit leben, daß sich ihre Staatsbürgerschaft viermal in ihrem Leben änderte. Wenn meine Großmutter noch zehn Jahre lebt, bekommt sie vielleicht noch einen europäischen Paß: den fünften dann.
Die Antwort ist einfach! Es ist dieser seltsame Idealismus, der mir sagt, daß ich hier gebraucht werde. Wenn alle abhauen und nicht mehr zurückkommen, dann bleibt dieses Land in den Händen derer, die es über Jahrzehnte ruiniert haben. Und dann bleiben auch die Vorurteile und die Spannungen. Es ist an der Zeit, offen über die Probleme der Vergangenheit zu sprechen, damit es eine Zukunft gibt, die nicht nur EU heißt, sondern gute Nachbarschaft. Ich will, daß dieses Land so schnell wie möglich alle Grenzen vergißt. Verstehen Sie das?«
»Natürlich! Bei uns hat die Linke das Thema lange genug unterschlagen, so getan, als hätte es das alles nicht gegeben. Jugo-Kommunismus war guter Kommunismus. Schweinereien durfte es schon aus ideologischen Gründen nicht geben. Und damit
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