Die Toten Vom Karst
brauchten es erst, wenn sie in der Nähe des 45. Breitengrades die Winde in Gang setzten. Bis dahin standen sie gemeinsam im windgeschützten Steuerhaus, der Glühwein aus den Thermoskannen und die dicken Pullover reichten aus, um sie zu wärmen. Bis die Temperatur im Steuerhaus nach einer halben Stunde angestiegen war, beschlug ihr Atem die Scheiben. Sie wischten die Sicht mit einem Lappen frei. Von der Steuerkonsole vor ihnen schimmerte der grünliche Schein der Instrumente, von Funkgerät, Kompaß, Radar und GPS, Log, Windmesser und Echolot.
Der Kutter stampfte trotz des Seegangs stabil in die Dunkelheit hinaus und rollte gleichmäßig in den Wellen. Manchmal, wenn eine Böe über sie hinwegfegte, legte er sich ruckartig ein Stück zur Seite und die Maschine drehte etwas höher. Die Männer im Steuerhaus hielten sich mit einer Hand an der Metallstange fest, die über die ganze Breite der Konsole vor ihnen lief. Bis sie auf der Höhe der Punta Salvore den Kurs nach Süden einschlagen konnten, die See ruhiger würde, kämpften sie sich mit nur zehn Knoten voran. Nach einer weiteren Stunde würden sie das große Schleppnetz auslegen und dann irgendwann auch den anderen Kutter treffen.
Südlich 45 Grad 30 Minuten nördlicher Breite waren sie in internationale Gewässer gefahren. Erst auf Höhe der Nordwestspitze Istriens, bei der slowenisch-kroatischen Grenze dehnte sich die Adria über die beiden Zwölf-Meilen-Zonen aus. Man erinnerte sich noch an die Zeit aus dem jugoslawischen Krieg, als die kroatische Marine mit Maschinengewehren einen italienischen Fischkutter beschoß, der in die Nähe des kroatischen Hoheitsgebiets geraten war, die Grenze aber noch nicht einmal berührt hatte. Mit dicken Einschußlöchern wurde er nach langem diplomatischen Gezerre endlich wieder freigegeben. Einer der Fischer bezahlte mit dem Leben. Die Situation war längst entschärft, zu solchen Übergriffen würde es nicht mehr kommen – hatten alle gedacht. Der Diktator war tot, die demokratische Regierung bemühte sich um Verständigung, schielte nach Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft und war dafür sogar in Grenzen bereit, über die Verbrechen der Vergangenheit zu sprechen. Doch erst vor kurzem passierte ein neuer Zwischenfall. Ein Fischer aus Grado fuhr angeblich in kroatische Gewässer und wurde wieder beschossen. Unverletzt, aber mit dreizehn Einschußlöchern in der Bordwand und im Steuerhaus, kehrte er zurück. Mysteriöse anonyme Anrufe folgten, die Behörden in Zagreb sprachen von Schmuggel: Fische, Drogen, Menschen. Die Beweise blieben sie schuldig und beide Regierungen wollten keinen »Fall« daraus machen, der die weiteren Schritte einer längst überfälligen Annäherung gefährden konnte.
Ugo Marasi nahm Kurs nach Süden. Die Bora wurde durch die Hügel im istrischen Hinterland umgeleitet und verfügte in diesem Teil des Meeres nur noch über die Hälfte ihrer Kraft. Erst im Quarnero, bei Fiume und Abbazia, konnte sie wieder ungehindert wüten. Sie hatten das Schleppnetz ausgelegt und fuhren mit konstant niedriger Fahrt. Die Ausbeute nach der zweiten Stunde blieb dem Seegang entsprechend gering. Ein paar Mormore, drei große Scarpene, die üblichen Doraden und Branzini, sowie einige Seezungen. Insgesamt nicht einmal ein Doppelzentner Fisch. Das Netz würden sie erst auf dem Rückweg wieder auslegen. Es war fast Mitternacht, sie mußten bald auf den anderen Kutter treffen.
Der letzte Schneefall hatte sich schon weiter nördlich gelegt, vereinzelt drang das Funkeln der Sterne durch die allmählich größer werdenden Risse in der Wolkenschicht.
»Die Rückfahrt wird leichter«, knurrte Marasi. Es war abzusehen, daß der rapide Wetterwechsel sich diesmal zum Guten wendete. Die Bora kam und verschwand wie sie wollte.
Die Nacht war pechschwarz, die Positionslichter des anderen Bootes waren gut zu erkennen. Wer lief sonst noch aus in einer solchen Nacht? Marasi drehte den Bordscheinwerfer aufs Meer, lenkte den auf der Wasseroberfläche immer länger werdenden Lichtstrahl in die Richtung des anderen. Dann traf sie auch von dort der helle Schlag einer Lampe. In langsamer Fahrt näherten sie sich einander. Sie mußten vorsichtig sein, der Seegang war nach wie vor stark, und es würde ein schwieriges Manöver werden, selbst dann, wenn sie schließlich die beiden Schiffe stabil aneinander vertäut hätten. Marasi drehte bei. Die Tür zum Steuerhaus stand offen. Luca im schweren Ölzeug rief Marasi knappe
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