Die Toten Vom Karst
ihnen die Hand und ging.
Er fluchte laut vor sich hin. Die Frau an einen Versicherungsvertreter verloren, der Sohn verkehrte in einer Faschistenkneipe. Was würde denn noch alles passieren. Er konnte derzeit wirklich nicht behaupten, sich in einer glücklichen Lebensphase zu befinden.
Marasi fährt
An der Pescheria lag der Schnee immer noch zehn Zentimeter hoch und selbst von den unzähligen Katzen, die tagein tagaus den Molo Venezia hinter dem alten Fischmarkt belagerten, war keine zu sehen. Das Blechkonzert der Stege und Wanten, Haken und Ösen der Segelboote aus dem Freizeithafen klingelte leise herüber, und der Verkehr auf der Uferstraße lief wieder flüssig, der nasse Schnee war längst zu Matsch zerfahren. Nacheinander trafen vier Männer auf der »San Francesco« ein. Marasi startete den Diesel und ließ ihn im Standgas warmlaufen. Sie richteten das große Schleppnetz her, kehrten den Schnee von Deck und füllten von dem Kühlwagen, der vorgefahren war, nur halb soviel Eis wie üblich in die Stauräume. Das war der einzige Vorteil, wenn man bei solcher Witterung auslief. Dennoch war die Nacht auf dem Meer nie so eisig wie an Land. Die Wassertemperatur lag acht Grad über dem Gefrierpunkt.
Der Jüngste unter ihnen, Mario, war 59 Jahre alt. Sie fuhren seit 1962 zusammen, als sie alle aus dem Istrien Titos nach Triest geflüchtet waren. In diesen fast vierzig Jahren hatten sie wohl kaum ein Fünftel von dem miteinander geredet, was andere, ihrer Meinung nach, an Worten verschwendeten. Sie verstanden sich auch so. Früher waren sie zu sechst, zwei lebten nicht mehr. Nur den Kutter hatten sie dreimal gewechselt, die Besatzung nie. Der jetzige war größer als seine Vorgänger und hielt auch schweren Stürmen stand. Je älter sie wurden, desto besser wurde ihre Ausrüstung. Die »San Francesco« war der einzige Kutter an dieser Mole, der zur Fischerei außerhalb des Golfes taugte. Vergleichbare Schiffe lagen sonst ein paar Kilometer von Triest entfernt bei Monfalcone und in Grado.
Keiner der Männer wunderte sich, daß sie heute ausliefen. Sie hatten wie immer zu Hause auf den Anruf gewartet, wußten, daß sie führen, als die Bora nera etwas abklang. Es war schon genug, den ganzen Sonntag zu Hause mit der Familie herumzusitzen, gelangweilt und schweigend dem Geschwätz der anderen zuzuhören. Groß würde der Fang bei dieser Witterung nicht ausfallen, aber es war besser draußen zu sein.
Ugo Marasi, 74, war es, der das Sagen hatte, und sie waren seit vielen Jahren damit einverstanden. Der fünfundsechzigjährige Giuliano stand ihm am nächsten. Er vermittelte zwischen Ugo und den zwei anderen, wenn es zu Spannungen kam. »Lieber Schiff und Besatzung, als den Fang verlieren«, pflegte Marasi dann zu sagen und wendete sich ab, nach einem verachtungsvollen Blick auf den, der gewagt hatte, ihn zu kritisieren. »Er meint es nicht so«, vermittelte Giuliano. »Er steht für jeden von uns gerade, das wißt ihr. Regt euch nicht auf, Ugo weiß genau, was er tut!« Vor ein paar Wochen sprachen Luca, 68, und Mario, 59, darüber, daß der Alte immer seltsamer wurde und es vielleicht doch Zeit sei, ans Aufhören zu denken. Ugo war ihnen schroff übers Maul gefahren. »Wer nicht mehr mitzieht, geht sofort!« Als Giuliano dazu nickte, setzten sie wortlos ihre Arbeit fort. Aber ihre Blicke blieben finster. Sie wußten, daß sie zu alt waren, um auf einem der anderen Kutter anzuheuern, zu verschlossen und als »Besatzung von Sturschädeln« verrufen. Ugo sprach tagelang kein Wort mehr mit ihnen.
Alle, die im Hafen zu tun hatten, wußten, daß Marasi und seine Männer sich noch nie vom Wetter hatten abhalten lassen. Punkt neunzehn Uhr machten sie los. Ugo manövrierte den Kutter aus der Sacchetta hinaus und lenkte mit der Hand den Strahl des Suchscheinwerfers auf das schwarze Wasser vor dem Schiff. Die Positionslichter der Lanterna und der Diga Vecchia drangen durch den leichten Schneefall zu ihnen herüber und auch das Leuchtfeuer vom Faro della Vittoria war wieder als matter, weißer Lichtblitz zu erkennen.
Marasi meldete sich über Funk bei der Capitaneria ab. Der diensthabende Beamte hatte ihn schon auf dem Radar gesehen.
»Sie sind wahnsinnig«, lautete die Antwort aus dem Lautsprecher. »Bleiben Sie hier! Wir haben keine Lust, Sie bei diesem Wetter rauszuholen, wenn etwas passiert.«
»Es passiert nichts. Bis morgen«, war seine knappe Antwort. »Ende.«
Das schwere Ölzeug hatten sie unter Deck verstaut. Sie
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