Die Toten Vom Karst
hinausgegangen und nach zehn Minuten mit der Zeitung zurückgekehrt.
»Den ganzen Tag?«
»Ja. Aber was wollen Sie? Was geht Sie das an?«
»Ich will ihn sprechen. Richten sie ihm das aus. Ich komme wieder.«
»Und wer sind Sie?«
»Ich bin Gubian.«
Den Namen hatte sie gestern in der Zeitung gelesen. Und jetzt erinnerte sie sich, wie Ugo, als sie jung waren, ihr irgendwann die Geschichte erzählt hatte. Wie er bebte vor Zorn und Drohungen ausstieß. Und wie sie ihn einmal zufällig sahen und Ugo sagte: »Das ist er!«, während Gubian machte, daß er weiterkam.
»Sagen Sie ihm, ich bringe ihn um!« Gubian ließ sie stehen und ging wieder hinüber auf die andere Straßenseite. Bewegungslos beobachtete er, wie sie die Tür aufschloß.
Es war im September 1943, nach dem Sturz Mussolinis und bevor die Deutschen kamen. Der jugoslawische Widerstand rechnete gnadenlos mit den italienischen Faschisten ab. Sie hatten die kroatische und die slowenische Bevölkerung nicht gerade sanft behandelt. Die Achsenmächte, Deutschland und Italien, sowie das »neue« Ungarn hatten Jugoslawien untereinander aufgeteilt. Mussolini rief die Provinz Ljubliana aus, Istrien war schon 1920 mit dem Vertrag von Rapallo Italien zugeschlagen worden. Slowenisch und Kroatisch zu sprechen, wurde von den Faschisten verboten, die slawischen Schulen, Banken und Unternehmen aufgelöst. Mit unerbittlicher Härte wurden alle slawischen Namen italianisiert und der Gottesdienst in slowenisch verboten, nachdem der Vatikan zuvor die slawischen Bischöfe durch Italiener ersetzt hatte. Jeder Gebrauch des Slowenischen oder Kroatischen in der Öffentlichkeit stand unter Strafe, sogar private Unterhaltungen mußten in Italienisch geführt werden.
Die Italiener stellten zwar die Mehrheit entlang der Küste und in den Städten, doch unter der slawischen Landbevölkerung faßte die Widerstandsbewegung schnell Fuß, ob monarchistisch, katholisch-nationalistisch oder kommunistisch. Der richtige Moment, sich für das erlittene Unrecht zu rächen, kam näher.
Nach dem Zusammenbruch des Regimes fanden Erschießungen statt. Es traf nicht nur die politischen Repräsentanten. Auch private Rache, Neid und Mißgunst spielten eine Rolle. Es wurde denunziert, gefoltert, vergewaltigt und gemordet. Und verschwiegen. Niemand wußte etwas Genaues. Die Meldungen über die entdeckten Greueltaten waren erschütternd. 1943 waren es nur ein paar Wochen gewesen, bis die Deutschen »die Ordnung« wieder herstellten. Die zweite Welle erfolgte ab April 1945 und war schlimmer. Das einzige, was bis heute daran erinnerte, war Polemik und von Zeit zu Zeit die schreckliche Entdeckung einer bisher unbekannten Foiba, in der die Opfer geendet waren, tot und lebendig hinuntergeworfen, dann Handgranaten hinterher und oft genug ein schwarzer Hund, der das Böse verkörpern sollte. Nur wenige hatten die Massaker überlebt. Über dreißig Foibe in Istrien und auf dem Triestiner Karst waren bis jetzt registiert. Die Angaben über die Anzahl der Toten reichten von fünfhundert bis zwanzigtausend. Nicht nur Italiener, auch Slowenen und Kroaten fanden dort den Tod. Und Marasis Schwester. Marasi hatte Bruna davon erzählt. Er war sich sicher, daß Gubian sie auf dem Gewissen hatte. Violetta, die schöne Tochter des Großbauern, die Gubian einst schnöde abblitzen ließ. Im September ’43 denunzierte er die dreiundzwanzigjährige Studentin. Die Deutschen zogen ihre Leiche nach Wochen aus einem Abgrund. Gefoltert, verstümmelt und vergewaltigt. Ihre Mörder wurden nie gefaßt. So hatte es Ugo erzählt. Er war davon überzeugt, daß Gubian daran beteiligt, wenn nicht sogar ihr Mörder war.
Doch weshalb hatte Gubian gesagt, er wolle jetzt auch noch Marasi umbringen? Dachte er etwa, Ugo steckte hinter dem Anschlag in Contovello? Sie mußte Ugo warnen. Und sie könnte endlich wieder ihm reden. Endlich. Er mußte ihr zuhören.
Sie wartete in ihrem Sessel darauf, daß er nach Hause kam. Dann würde sie bei ihm klingeln. Zum ersten Mal seit fünfundzwanzig Jahren.
*
Proteo Laurenti kam viel zu spät ins Büro und sein Sohn Marco eine Stunde zu spät zur Schule. Wie fast jeden Morgen mußte sein Vater ihn viermal rufen, bis er aufstand. Dafür brauchte er im Bad nicht einmal fünf Minuten und raste dann an der Küche vorbei zur Wohnungstür.
»Marco!« rief Proteo und stellte die Kaffeemaschine auf den Herd.
»Ciao, Papà. Muß mich beeilen, bin schon zu spät.«
»Marco, ich möchte mit dir
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